Mentalitätsgeschichte

von Knut Görich (München)

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Text: Transkription von Filmaufnahmen

Um was es sich bei der Mentalitätsgeschichte genau handelt, ist nicht unbedingt einfach zu definieren, denn „Mentalität“ gehört gewissermaßen zu den weichen Begriffen, die von verschiedenen Autoren auch unterschiedlich aufgefasst werden.

Knut Görich, Mentalitätsgeschichte / Startbild: Portraitbüste Kaiser Friedrichs I. (um 1160), ehem. Prämonstratenser-Chorherrenstift Cappenberg, DPA (Ronald Wittek)

Allgemein gesagt, geht es um Denkmuster einzelner sozialer Gruppen, auch ganzer Epochen. Mentalitätsgeschichte ist die Geschichte von gruppenspezifischen oder epochenspezifischen Denkformen. Als Träger spezifischer Gruppenmentalitäten kommen dann beispielsweise Adel und Ritter, Klerus und Mönche, Städter aber auch Intellektuelle oder Bauern in Betracht.

Kollektive Einstellungen und Denkgewohnheiten

Mentalitäten bezeichnen kollektive Einstellungen und Denkgewohnheiten. Das französische Wort „mentalité“ wurde um 1900 von dem Soziologen Émile Durkheim zu einem sozialwissenschaftlichen Begriff gemacht. Grundlage war die Einsicht, dass die gedachte Wirklichkeit für das Handeln von Menschen nicht weniger „wirklich“ ist als es die faktische Wirklichkeit ist – mit anderen Worten -, dass sich das Handeln der Menschen eben nicht nur nach der Wirklichkeit richtete, sondern eben auch nach den Vorstellungen, die sie sich davon machten.

Lucien Febvre und Marc Bloch

Der Begriff der Mentalität wurde dann von den französischen Historikern um Lucien Febvre und Marc Bloch übernommen, die mit der um 1929 gegründeten Zeitschrift Annales eine ganz programmatische Absicht verfolgten, nämlich die bis dahin dominierende politische Nationalgeschichte zu überwinden, die sich vor allem auf die sogenannten „Großen Männer“ und ihre Taten konzentriert hatte. Mit diesem Zugang zur Geschichte war dann auch eine ganze Reihe neuer, auch heute noch wegweisender Werke verbunden, die sich den Formen kollektiver Vorstellung gewidmet haben – zu nennen wäre etwa Marc Blochs 1984 erschienenes Buch über die Rois thaumaturges, also über die Vorstellung, dass die französischen und englischen Könige über besondere Heilkräfte verfügt hätten. Zu nennen wäre auch das dann später erschienene Werk über die Société féodale.

Verspätete Rezeption in Deutschland

Übrigens sind diese beiden Highlights der französischen Geschichtsschreibung erst mit einem halben Jahrhundert Verspätung ins Deutsche übersetzt worden und diese Verspätung macht darauf aufmerksam, dass die deutschen Historiker der Mentalitätsgeschichte gegenüber lange Zeit recht skeptisch, um nicht zu sagen, ablehnend gegenübergestanden sind. Die Ursache dafür liegt letztlich in unterschiedlichen nationalen Wissenschaftstraditionen begründet. Die spezifisch deutsche Geschichte hatte eben auch Auswirkungen auf das Erkenntnisinteresse und die Fragestellungen der deutschen Historiker.

Weil es in Deutschland vor dem 19. Jahrhundert keinen Gesamtstaat gegeben hat, interessierten sich die Historiker eben vor allem für das Phänomen des Staates und der Staatlichkeit. Das Bedürfnis, die Reichsgründung von 1870/1871 dann auch historisch zu legitimieren, sozusagen mit einer historischen Tiefendimension zu versehen, hat dazu geführt, dass man vor allem nach dem deutschen Staat im Mittelalter, bzw. nach dem Vorläufer des Deutschen Staates im Mittelalter gefragt hat. Und es ist genau diese Fixierung auf den Staat, weshalb sich die deutsche Forschung erst relativ spät von der politischen Geschichte traditioneller Prägung gelöst hat.

Das heißt nicht, dass es nicht der Sache nach mentalitätsgeschichtliche Arbeiten gegeben hätte. Zu nennen wäre etwa das 1935 erschienene Buch von Karl Erdmann über die Entstehung des Kreuzzugsgedankens. Er erklärte in damals innovativer Verknüpfung von Sozialgeschichte und Mentalitätsgeschichte die Entstehung des Kreuzzugsgedankens aus verschiedenen Einflüssen, also etwa aus der Entstehung des Rittertums, aus der Gottesfriedensbewegung, aus Einflüssen des Reformpapsttums und der Kirchenreform. Aber solche innovativen Zugriffe blieben in der deutschen Forschung eher die Ausnahme.

Überwindung einer zunehmend „steril“ gewordenen Geschichte

Etwa seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts haben sich dann auch die deutschen Historiker der Mentalitätsgeschichte geöffnet und zwar so nachhaltig, dass mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen heute ein ganz selbstverständlicher Bestandteil der historischen Arbeiten der Mediävistik geworden sind. Die nachhaltigste Wirkung der Mentalitätsgeschichte besteht sicher darin, dazu beigetragen zu haben, eine zunehmend „steril“ gewordene politische Geschichte traditioneller Prägung zu überwinden und den Weg für eine anthropologisch orientierte Geschichtswissenschaft zu öffnen. Deren Charakteristikum ist vor allem die Hinwendung zum Menschen, zu den Bedingungen und Vorstellungen seines Lebens und zu den Formen und Normen seines Lebens.

Mich selbst interessiert die Mentalitätsgeschichte vor allem im Zusammenhang mit dem, was man als Neue politische Geschichte bezeichnen könnte. Neue politische Geschichte insoweit, als sie im Unterschied zur bisher betriebenen vor allem auch die kulturellen Vorstellungen integrieren muss, die die Wahrnehmung und Gestaltung des Politischen geprägt haben. Was ich meine, lässt sich vielleicht kurz am Begriff des Handlungsspielraumes skizzieren. Der politische Handlungsspielraum entstand nicht nur „mechanisch“ als Ergebnis von konkret vorhandenen Macht und Besitzverhältnissen. Politischer Entscheidungsspielraum entsteht vor allem auch als Ergebnis von Ordnungs- und Wertevorstellungen, die das Handeln der Menschen motiviert haben.

Ein für den Adel zentrales Handlungsmotiv war die Ehre. Die politische Elite der damaligen Zeit war um ihrer Ehre willen viel zu tun bereit, was uns aus heutiger Sicht eher unvernünftig oder irrational erscheint. Das ist aber kein Beispiel für die viel berufene Irrationalität des mittelalterlichen Menschen, sondern es ist eher ein Beispiel für die Schwierigkeiten, die wir haben, wenn wir versuchen, die Mentalität des mittelalterlichen Menschen und eben auch die des Kriegeradels angemessen zu erfassen.

Diese Mentalität beeinflusste aber natürlich auch die Handlungen von Königen und Kaisern. Sie sind also weniger die Staatsmänner, als die sie uns das 19. Jahrhundert gezeichnet hat, sondern sie sind vor allem einmal Menschen ihrer eigenen Zeit. Auch mit Blick auf die Geschichte der politischen Elite bringt daher die Frage nach der Mentalität vor allem die Andersartigkeit und die Fremdartigkeit des Mittelalters zum Vorschein. Die Frage nach der Mentalität hilft damit vielleicht auch beim Verständnis fremder Kulturen in unserer eigenen Gegenwart.

Zitiervorschlag
Knut Görich: Mentalitätsgeschichte, in: Mathias Kluge (Hg.), Mittelalterliche Geschichte. Eine digitale Einführung (2007). URL: http://mittelalterliche-geschichte.de/goerich-knut-01