Hagiographie

von Markus Christopher Müller (München)

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Als Hagiographie (Etymologie: hágios = heilig, gráphein = schreiben) bezeichnet man sowohl Texte und materielle Überreste, die vom Leben der Heiligen zeugen, als auch die wissenschaftliche Erforschung solcher Darstellungen. Zu den Texten gehören Berichte über Leben (Vita) und Taten (Gesta) von Heiligen, aber auch Märtyrerakten, Translationsberichte, Bistums- und Klosterchroniken, Nekrologien sowie liturgische Texte wie Offizien oder Messformulare. Zu den materiellen Überresten zählen Kirchenbauten, Fresken und Ikonen, Grabstätten, Reliquien und Reliquiare, Votiv- und Devotionalgaben sowie Paramente und liturgisches Gerät.

Der heilige Ulrich in einer Handschrift des 11. Jh. (Wien, ÖNB , Cod. 573, fol. 26v)

1. Ausbildung der Quellengattung in der Antike

Frühe christliche Hagiographien entstanden in den ersten Jahrhunderten nach dem Auftreten Jesu Christi. Sie handeln von der Gottesmutter Maria, von den Jüngern Jesu und den Aposteln. Sie werden in weiten Teilen der apokryphen Literatur, also nicht der kanonisierten Heiligen Schrift zugerechnet.

 

Märtyrer als Heilige

Parallel entstand die Gattung der Märtyrerliteratur, zunächst in Form von Prozessakten (Acta), später auch in ausformulierten Darstellungen des Martyriums (Passio), die allerdings keine Lebensbeschreibung intendieren, sondern Verurteilung und Tod der Märtyrer schildern. Neben den Acta Scillitanarum, die als älteste lateinische Martyriumsberichte gelten, können die Martyrien des heiligen Polykarp (2. Jh.) oder der heiligen Perpetua und Felicitas (3. Jh.) als Beispiele genannt werden. Literaturhistorisch finden sich in der sich etablierenden christlichen Hagiographie Elemente der antiken Gattungen der Biographie und der Panegyrik, also der öffentlichen Lobrede auf Gastgeber, Herrscher oder andere Persönlichkeiten.

Hll. Perpetua und Felicitas in der Basilika Sant’Apollinare Nuovo, Ravenna, ca. 6. Jh. (Foto: Fr. Lawrence Lew, O.P)

Bischofs und Mönchsviten

Ab der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts entstand mit der noch eng an das Martyrium gebundenen Bischofsvita ein neuer Typus von Hagiographie, deren inhaltlicher Schwerpunkt auf der gewissenhaften und an Christus und seinen Aposteln orientierten Wahrnehmung des Bischofsamtes lag. Starben diese vorbildlichen Bischöfe nicht als Märtyrer, wurde ihnen in der Hagiographie der Titel eines Bekenners (confessor) zugesprochen. Parallel dazu wurden mit der Entstehung monastischer Bewegungen innerhalb der westlichen Kirche auch hagiographische Schriften verfasst, welche das Leben von Einsiedlern – hier sei die Vita des Wüstenvaters Antonius genannt – oder in Gemeinschaft lebender Mönche erzählten und dabei einen besonderen Schwerpunkt auf die Ideale der Askese, der Weltflucht und der Abtötung leiblicher Begierden legten.

Eine berühmte Kombination aus Bischofs- und Mönchsvita liegt mit der am Übergang vom 4. zum 5. Jahrhundert entstandenen Lebensbeschreibung des heiligen Martin von Tours aus der Feder des Sulpicius Severus vor. Martin gibt seinen Dienst als römischer Soldat auf und wird Mönch, akzeptiert nach Zögern – die Vita schildert, Martin habe sich im Gänsestall versteckt, sei dann aber von den Tieren verraten worden – das ihm angetragene Amt als Bischof von Tours und zieht sich trotzdem immer wieder in die Abgeschiedenheit von Marmoutier zurück. Die Martinsvita wurde zu einem Referenzwerk der Hagiographie des gesamten Mittelalters, der Bischof wurde zum Reichsheiligen und ist bis heute vielerorts als seinen Mantel teilender Wohltäter bekannt.


Am Ende der Spätantike steht die Vita Sancti Severini, eine Biographie des hl. Severin von Noricum, die Eugippius von Lucullanum wohl 511 verfasste. Die Vita stellt eine seltene Quelle für das monastische Leben in Mitteleuropa im ansonsten oft sehr quellenarmen ausgehenden 5. und beginnenden 6. Jahrhundert dar: Kontemplation, Bekehrung, Wunder und Prophetie zeigen sich darin als zentrale Kategorien des Heiligen in einer Zeit politischer und religiöser Unsicherheit.

2. Historische Entwicklung im Mittelalter

Hagiographien sind eine zentrale Quelle für die Geschichte des gesamten  Mittelalters. In ihnen spiegeln sich nicht zuletzt die Veränderungen wieder, welche Gesellschaft und Religiosität von der politischen Neuformierung und (Re-)Christianisierung Europas bis zum Vorabend der Reformation erfuhren.

Frühmittelalter

Vom 6. bis zum 9. Jahrhundert erfuhr die Hagiographie eine weite Verbreitung. Deshalb stellt sie für diese ansonsten eher quellenarme Zeit eine wichtige Quellengattung dar. In Italien besaß die Märtyrerliteratur nach dem Ende der antiken Christenverfolgung eine identitätsstiftende Funktion für die Christengemeinden. Als ältestes bekanntes Verzeichnis der Namen von Märtyrern und ihrer biographischen Daten, zumeist für den liturgischen Gebrauch bestimmt, entstand im 5. oder 6. Jahrhundert das nach dem heiligen Hieronymus benannte Martyrologium Hieronymianum. Es liefert einen der ältesten Belege für die Verehrung der heiligen Afra in Augsburg.

Papst Gregor der Große unternahm mit seinen Dialogi de vita et miraculis patrum Italicorum den Versuch, durch eine Zusammenstellung von Lebens- und Wunderbeschreibungen italienischer Heiliger den Nachweis zu erbringen, dass auch der lateinische Westen seiner Gegenwart viele heilige Männer und Frauen hervorgebracht habe. Das zweite Buch der Dialogi widmete Gregor etwa dem hl. Benedikt von Nursia. Als weitere Autoren der Zeit können Gregor von Tours mit De gloria confessorum und De gloria martyrum und Venantinus Fortunatus mit seinen Lebensbeschreibungen des Germanus von Paris und der Königinwitwe Radegunde genannt werden. 

Den zunächst im gallisch-germanischen Raum dominierenden Viten mit der Typologie des heiligen Mönchsbischofs wurde ab dem 8. und 9. Jahrhundert eine veränderte Form der Märtyrerliteratur zur Seite gestellt, als Missionare in den Osten des Frankenreichs zogen und dort kirchliche Strukturen errichteten. Einer der bekanntesten dieser Missionare war sicherlich der hl. Bonifatius, dessen Nachfolger den Mainzer Kanoniker Willibald damit beauftragte, auf Grundlage der Briefe des Bonifatius eine Vita zu verfassen. In der Zeit der Etablierung kirchlicher Strukturen, die sich politisch eng verbunden zeigt mit der karolingischen Kirchenpolitik, entstanden viele weitere Viten von Missionsbischöfen, etwa des hl. Rupert von Salzburg oder des hl. Kilian von Würzburg mit seinen Gefolgsleuten Kolonat und Totnan. Die Herkunft vieler dieser reisenden Bischöfe und Mönche muss ungeklärt bleiben. Zumeist stammten sie aus dem westlichen Frankenreich, aber auch aus England und Irland, weshalb sich die mitteleuropäischen Hagiographien oft an älteren Vorbildern im Westen Europas orientierten.

Hochmittelalter

Im 11. Jahrhundert, der Zeit der Gregorianischen Reformen und des Investiturstreits, griffen die neu entstehenden Hagiographien die vorherrschenden Probleme auf und stellten das prophetische Handeln und die Auseinandersetzung mit der politischen Macht in den Mittelpunkt. Der aszetisch lebende Kirchenreformer (Umkehr und Reform durch Verzicht und Fasten), verkörpert etwa durch Petrus Damiani, wurde zum Idealbild des Heiligen im Umfeld Papst Gregors VII. Noch weitaus revolutionärer muten die Veränderungen innerhalb der Hagiographie an, die aus dem Auftreten des hl. Franziskus von Assisi resultierten. Er war kein Bischof oder Mönch der alten Orden, sondern trat als Laie gegen die politischen und ökonomischen Eliten seiner Heimatstadt auf. Er wählte die Armut und wandte sich als Kleriker und Diakon den leidenden Mitmenschen zu. Bonaventura als Verfasser der Lebensbeschreibung des Franziskus rückte deshalb die compassio, die Teilhabe an den Leiden Christi und der Menschheit, in den Mittelpunkt seiner Darstellung.     


Ab der Mitte des 12. Jahrhunderts entstanden vermehrt Viten lokal verehrter Heiliger, etwa die Lebensbeschreibungen der hl. Juliana in Schäftlarn oder des hl. Servatius in Maastricht. Dies geschah auch, um deren Kult zu fördern. Im höfischen Umfeld kam daneben Literatur auf, die sich den heiligen und tugendhaften Rittern als Vorbildern des zeitgenössischen Adels widmete. So gaben etwa Herzog Otto II. von Bayern und seine Ehefrau Agnes bei Reinbot von Durne 1231/56 eine mittelhochdeutsche Vita des hl. Georg in Auftrag. Vermutlich konnte dieser sich auf eine französische oder lateinische Version der weit verbreiteten Georgslegende stützen. In der Folgezeit entstanden vermehrt landessprachliche Werke unterschiedlicher Gattungen, teils auch im bürgerlichen Umfeld, wie die Pantaleondichtungen des Konrad von Würzburg.

Spätmittelalter

In frühneuhochdeutscher Zeit bildeten sich schließlich umfänglich unterschiedliche literarische Bereiche der Hagiographie aus. Ab der Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden in Form von Dramen verfasste Heiligenspiele, Prosaübersetzungen existierender hagiographischer Erzählungen, aber auch Predigtbücher und Legendare als hagiographische Sammlungen.

 

Konrad von Würzburg im Codex Manesse aus dem 14. Jh. (Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, fol. 383r)

Überblickt man die Geschichte der mittelalterlichen Hagiographie, zeigt sich zum einen ein stetiger Wandel, der neue Formen und Typologien der Heiligkeit hervorbrachte, ohne bestehende dadurch zu ersetzen, zum anderen lassen sich aber auch gleichbleibende Gemeinsamkeiten benennen. Diese sind maßgeblich von der christlichen Kultkontinuität Europas seit der Spätantike getragen, innerhalb derer sich auch neue Funktionszuschreibungen an Heilige bewegten.

3. Überlieferungssituation

Bereits ab der Spätantike wurden Heiligenviten meist entweder dem liturgischen Kalender folgend oder nach einer bestimmten Systematik (Apostel, Märtyrer, Bekenner, Jungfrauen oder Ordenszugehörigkeit, Herkunft, regionale Bedeutung) gruppiert zusammengestellt. Ab dem 13. Jahrhundert entstanden alphabetisch oder chronologisch geordnete Sammlungen, die heute meist als libelli oder, wenn sie umfangreicher ausfallen, als Legendare bezeichnet werden. Unter Kurzlegendaren versteht man dabei meist kompilierte Sammlungen, etwa die Legenda aurea des Jacobus de Voragine, der wohl das Legendar des Bartholomäus von Trient als Grundlage diente. Unter den vielen unterschiedlichen Legendaren des Spätmittelalters setzte sich durch den Buchdruck die Sammlung „Der Heiligen Leben“ als Standardwerk für den deutschsprachigen Raum durch. Vom Jahr des Ersterscheinens 1471 bis zur Reformation liegen insgesamt 41 illustrierte Auflagen vor.

Hagiographische Editionsprojekte

Heute sind zahlreiche hagiographische Handschriften und Frühdrucke sowohl in lateinischer Sprache als auch in unterschiedlichen Volkssprachen erhalten, obwohl die Reformation und die liturgischen Reformen des Konzils von Trient im 16. Jahrhundert für große Überlieferungsverluste gesorgt haben dürften. Schon in der frühen Neuzeit erschlossen dann die Jesuiten aus katechetischen Gründen die Überlieferungssituation durch Kataloge. Der französische Jesuit Jean Bolland begründete die Acta Sanctorum als großangelegtes Projekt zur Zusammenstellung einer wissenschaftlich fundierten Übersicht aller Heiligen. Er gab den hagiographisch arbeitenden Bollandisten ihren Namen. Als Beispiel für ein regionales Projekt der Edition von Heiligenviten lässt sich die Bavaria Sancta des Jesuiten Matthäus Rader nennen, eine publizierte Lebensbeschreibung von Heiligen des bayerischen Raums.

Die Bibliotheca Hagiographica Latina (BHL) als von den Bollandisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts erstelltes Hilfsmittel gibt Auskunft über die handschriftliche Überlieferung, verschiedene Fassungen und existierende Editionen von Heiligenviten in lateinischer Sprache. Seit 1999 ist sie auch online zugänglich. Trotz zahlreicher Editionsbemühungen, teilweise auch der Monumenta Germaniae Historica und anderer Institutionen, gibt es bis heute keine systematischen Editionsprojekte, weshalb zahlreiche hagiographische Texte noch nicht in historisch-kritischen Editionen vorliegen.

Titelblatt Raders Bavaria Sancta (München 1624, Augsburg, SuStB, 2ThL63)

4. Typologien von Heiligkeit

In den hagiographischen Texten lassen sich unterschiedliche Typologien von Heiligkeit ausmachen: frühchristliche Märtyrer und Konvertiten, Apostel und Missionare, Mönche, Einsiedler und Äbte, fromme Witwen und Ordensfrauen, aber auch mächtige Bischöfe, Herrscher und Fürstinnen. Mit Blick sowohl auf die Verehrungsgeschichte als auch auf die unterschiedlichen Textsorten der Überlieferung können sich überschneidende Typologien identifiziert werden, deren Funktionszuschreibungen, welchen Idealvorstellungen also Heilige zu entsprechen hatten, sich auch im Lauf der Zeit verändern oder sogar ablösen konnten. Das Martyrium der frühen Kirche kehrt etwa mit den Kreuzzügen wieder in transformierter Form zurück. Während die Bischöfe in Spätantike und Frühmittelalter erst Diözesen zu gründen hatten, mussten ihre Amtsbrüder im Hochmittelalter bereits den Tugendkatalog mitsamt aller Aufgaben erfüllen, die ihre Rolle als Reichsbischöfe mit sich brachte. Für heilige Frauen diente die Gottesmutter Maria über alle Epochen als Vorbild. Die dadurch evozierte Erwartungshaltung genauso wie Abweichungen vom Ideal eigenen sich hervorragend für die moderne Geschlechterforschung.

Heilige Herrscher

Krönungsbild aus dem Regensburger Sakramentar (11. Jh, München, BSB Clm 4456, fol. 11r)

Laien begegnen unter den Heiligen des Mittelalters besonders als fromme Fürsten und Könige, wie etwa der hl. Stephan, der erste christliche König von Ungarn. Ein weiteres prominentes Beispiel stellt das heilige Herrscherpaar Heinrich und Kunigunde dar. Kaiser Heinrich II., der 1007 das Bistum Bamberg als Memorialstiftung gründete, wurde noch vor seiner Frau, Königin Kunigunde, heiliggesprochen. Als keusches Ehepaar verehrt, standen sie nicht nur stellvertretend für das Ideal des christlichen Herrschers und seiner Gemahlin, sondern auch für ein tugendhaftes keusches Eheleben als christliche Laien. Die verschiedenen Heiligentypen können auch in ihren unterschiedlichen Rollenzuschreibungen verstanden werden. Das bekannte Krönungsbild aus dem Regensburger Sakramentar zeigt Kaiser Heinrich II., wie ihn die beiden heiligen Bischöfe Ulrich von Augsburg und Emmeram von Regensburg hinauf zum Thron Christi, des Weltenrichters, heben.

5. Materialität: Reliquien und ihre Translation

Das Krönungsbild des Regensburger Sakramentars gibt ebenfalls Einblick in die Materialität mittelalterlicher Hagiographie. Zwei Engel überreichen Kaiser Heinrich die Heilige Lanze und das Reichsschwert. Die beiden Objekte wurden spätestens ab der Ottonischen Zeit den beiden römischen Soldaten Longinus, dem Zenturio des biblischen Kreuzigungsberichtes, und Mauritius, einem Märtyrer des 3. Jahrhunderts, zugeschrieben. Die Herkunft der Repräsentationsobjekte, gleichsam aus heiligen Händen, legitimierte die Herrschaft des sie tragenden Herrschers.

Heilige Orte: Grablegen und Translationsberichte

Die Vorstellung einer besonderen Bedeutung des Besitzes solcher mit heiligen Personen verbundener Objekte, genauso wie die räumliche Nähe zu ihren Grablegen, durchzieht die Hagiographie von ihren Anfängen an. Die Bedeutung der biblischen Orte in und um Jerusalem, die in den Evangelien Erwähnung finden, erklärt sich dadurch genauso wie die Etablierung Roms als führender Bischofssitz des Westens an der Grablege der Apostelfürsten Petrus und Paulus und als Ruheort zahlloser Märtyrer in den Katakomben. Bereits Einhard, der Ratgeber Karls des Großen, berichtet in seinen Erzählungen über einen in Rom begangenen Raub von Reliquien und deren anschließende Translation über die Alpen, da auch andere Orte innerhalb der lateinischen Kirche, besonders im 8. und 9. Jahrhundert, materiell an der Heiligenverehrung teilhaben wollten.

Die im Frühmittelalter entstehenden Bischofssitze legitimierten ihre Bedeutung oft als Ort der Grablege wichtiger heiliger Bischöfe, wie etwa Salzburg mit dem Grab des hl. Rupert oder Freising mit dem Grab des hl. Korbinian. Parallel entstand die Quellengattung der Translationsberichte, welche die Erhebung der Gebeine von Heiligen, die Übertragung von Reliquien sowie die Beisetzung (depositio) am Ort kultischer Verehrung beschreiben. Mit der Ausbreitung des lateinischen Christentums in ganz Europa und darüber hinaus entstanden immer mehr solcher Kultorte, die ihre religiöse Bedeutung als Grablege eines Heiligen oder als Aufbewahrungsort einer Reliquie erlangten. Materielle und konkrete Zugänglichkeit zum Heiligen und seinen Überresten wurde so zu einem Strukturelement der mittelalterlichen Sakraltopographie Europas, aus dem die entsprechenden Orte Legitimität ihrer Bedeutung und Prestige ableiten konnten.

6. Miracula: Bedeutung von Wundern

Zentrale Bedeutung in der Erzählstruktur von Hagiographien besitzen Wunder als übernatürliche Taten, mit denen Personen als Heilige ausgewiesen werden. Die Berichte über solche Wunder, die von Heiligen vollbracht wurden, orientieren sich zum einen an den Wundern, welche die biblische Überlieferung des Neuen Testaments Jesus Christus und, nach seiner Himmelfahrt, den Aposteln zuschreibt. Zum anderen können sich aber auch auf die Wunder rekurrieren, von denen das Alte Testament mit Blick auf Patriarchen und Propheten berichtet. Der hl. Severin, wie ihn Eugippius beschreibt, zeigt sich als Prophet in Zeiten des politischen Umbruchs.

Wichtig ist, dass die Hagiographien nicht nur eine Formgleichheit erreichen wollen, sondern immer auch betonen, dass nicht die Heiligen als Personen diese Wunder vollbringen. Vielmehr hätten sie dies mit göttlicher Kraft vollbracht; die Wunder dürften also als Beleg für die göttliche Auserwählung der jeweiligen Heiligen herangezogen werden. Der hl. Martin vermag es, Wunder auf Grund seiner persönlichen Tugendhaftigkeit, seiner religiösen Verdienste, seiner Enthaltsamkeit und Askese, im Grunde aber allein durch das Wirken der göttlichen Gnaden zu vollbringen. Hierin dürfte sich wohl, trotz erkennbarer stilistischer Gemeinsamkeiten, der wesentliche Unterschied zu den Wundertaten verstehen lassen, wie sie in der Panegyrik der paganen Antike begegnen.

Inhalte der Wundererzählungen

Inhaltlich können die Wunder der christlichen Hagiographie, entsprechend ihren biblischen Vorbildern, von der Heiligung bis zur Strafe reichen, vom übernatürlichen Kampf mit Fabelwesen, wie sie die Vita des hl. Patrick in bildlicher Ausmalung von dessen Missionstätigkeit im heidnischen Irland verwendet, bis hin zu weniger spektakulären Speisewundern.

Gerade in der alltagsgeschichtlichen Dimension von Armut, Krankheit, Ernährung und Tod können Hagiographien Einblick in die Arbeits- und Lebensbedingungen jener Schichten geben, die ansonsten selten in der schriftlichen Überlieferung des Mittelalters Erwähnung finden.

Bärenwunder des hl. Korbinian (Polack 1489)

7. Heiligenverehrung als Praxis

Die Entstehung hagiographischer Texte zeigt sich mit der Heiligenverehrung als Praxis eng verbunden. Von der Antike bis in die Frühe Neuzeit unterlag sie einem stetigen Wandel, weist aber trotzdem starke Kontinuitätslinien auf. Die Heiligenverehrung war die Grundlage hagiographischer Textproduktion. Sie erhielt aber auch beständig Impulse aus neu entstandenen hagiographischen Quellen, die neue Aspekte oder Schwerpunkte der kultischen Verehrung der von ihnen beschriebenen Heiligen hinzufügten.

In ihrer Mittlerstellung zwischen Gott und dem Menschen waren die Heiligen und ihre Verehrung aber auch immer wieder Ziel religiöser Kritiker. Vom byzantinischen Bilderstreit über die zahlreichen Reformbewegungen des Mittelalters, basierte die grundlegende Kritik dabei immer auf der zentralen Forderung, Gott allein die angemessene Verehrung zuteilwerden zu lassen. Die Intensität derartiger Kritik konnte von moderaten Warnungen vor übertriebenen Formen bis zu völliger Ablehnung der Heiligenverehrung reichen.

Heiligenverehrung als Lebensalltag

Der obenstehende Überblick über die Geschichte der Hagiographie zeigt, dass sich in der konkreten Praxis der Heiligenverehrung auch immer die konkreten Lebenssituationen, die politischen Umstände, klimatische und naturräumliche Veränderungen, aber freilich auch theologische Denkmodelle widerspiegeln. Die Hagiographie muss dabei nicht allein als Projektionsfläche der sich wandelnden Vorstellungen von Gott und dem Menschen verstanden werden, sondern darf als Ausdruck zahlreicher anthropologischer Grundvollzüge betrachtet werden, weshalb ihre Erforschung thematisch auch die gesamte Breite der Geschichtswissenschaften abbilden sollte.

8. Forschungsfelder

Während die Hagiographie lange Zeit als tendenziell historisch wertlose Quellengattung betrachtet wurde, wuchs ihre Attraktivität für die Forschung in den vergangenen Jahrzehnten auf Grund neuer interdisziplinärer und kulturwissenschaftlicher Untersuchungsperspektiven. Hagiographien können in vielfältiger Weise als Quellen herangezogen werden. Neben der lange dominierenden Frage nach dem „historischen Kern“ der beschriebenen Heiligenleben können auch weitere kulturhistorische Fragen an hagiographische Quellen gerichtet werden, weil die geistliche und die weltliche Sphäre in allen Lebensbereichen der Spätantike und des Mittelalters eng verflochten waren.   Methodisch muss trotzdem festgehalten werden, dass die Hagiographien in den meisten Fällen eindeutig einem klerikal-monastischen Kontext entstammen. Sie stellen nicht die einzige, aber eine umso notwendiger zu ergänzende Quelle für die Mediävistik dar, die in sozial- und mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht auch die Frage nach dem kollektiven Gedächtnis aufwirft.

Mit den Geschichts- und Literaturwissenschaften, der Theologie und Kirchengeschichte, der Kunstgeschichte und Archäologie sowie der Religionswissenschaft und Kulturanthropologie widmen sich unterschiedliche Fächer mit eigenen Forschungstraditionen der Auswertung hagiographischer Quellen.

Vergleichende Perspektive

Sie beschränken sich dabei in einer oft vergleichenden interkulturellen Perspektive nicht mehr allein auf den lateinischen Westen, sondern beziehen auch Byzanz, Ägypten, Äthiopien oder Indien in ihre Untersuchungen ein. Versuche systematischer interreligiöser Vergleiche, etwa mit der Textualität und Materialität des Sakralen im Islam oder im Judentum, aber auch im Hinduismus, Buddhismus oder Konfuzianismus stehen noch aus. In jedem Fall bieten viele hagiographische Quellen – seien es die Viten bekannter Heiliger, seien es die bisher kaum bekannter, nur regional oder lokal verehrter Heiliger – noch großes Forschungspotenzial.

Zitiervorschlag
Markus Christopher Müller: Hagiographie, in: Mathias Kluge (Hg.), Mittelalterliche Geschichte. Eine digitale Einführung (2023). URL: https://mittelalterliche-geschichte.de/mueller-markus-christopher-01