Reiseberichte
von Daniela Kah (Zürich)
Lesezeit: ca. 9 Minuten
Die Kontakte von Reisenden mit »fremden« Ländern, Völkern und Traditionen haben Spuren hinterlassen, die in der Geschichtsforschung aus verschiedenen Perspektiven untersucht werden können.
Reisegesellschaft mit Gefolge, Miniatur in einem Psalter (ca. 1320-1340)
British Library, Add MS 42130, fol. 181 v.
Reisende des Mittelalters zog es nicht primär aus »Entdeckungslust« in die Ferne. Das Reisen im Mittelalter war meistens unbequem, gefährlich und zeitaufwändig. Deshalb reiste man vor allem dann, wenn es notwendig war.
Reisemotivation im Mittelalter
Während Pilger und Missionare aus religiösen Gründen reisten, entschlossen sich Gesandte aus politischen Gründen, in entfernte und fremde Gebiete zu ziehen. Seit dem 12. Jahrhundert beförderten wachsende ökonomische Interessen die Handelsreisen von Kaufleuten und ihren Bediensteten. Zudem führten Heerfahrten, Kriegs- und Kreuzzüge zu weiten Expansionsbewegungen, die ursprünglich mit dem mittelhochdeutschen Wort reise bezeichnet wurden. Auch unfreiwillige Aufenthalte in der Ferne, wie etwa die Kriegsgefangenschaft, führten zu Kontakten mit fremden Kulturen. Und schließlich verspürten auch die Menschen des Mittelalters immer wieder das Bedürfnis, die Fremde zu entdecken. Nicht alle machten sich jedoch selbst auf den beschwerlichen Weg, sondern stillten ihre Neugier mit Berichten, die Reisende auf ihren Fahrten oder nach ihrer Rückkehr in der Heimat verfassten.
Reiseberichte des Mittelalters
Die Reiseberichterstattung im abendländischen Raum erlebte ihren ersten Höhepunkt in den Aufzeichnungen von Pilgern, päpstlichen oder königlichen Gesandten des 13. bis 15. Jahrhunderts. Ein im 10. Jahrhundert entstandener Reisebericht des Bischofs Liutprand von Cremona (ca. 920‒972), der als Gesandter Kaiser Ottos I. an den Kaiserhof in Byzanz reiste, ist noch ein singuläres Dokument seiner Zeit. Aus dem 13. Jahrhundert sind demgegenüber viel mehr Reiseberichte überliefert, was auch auf die wachsende Schriftkultur im Spätmittelalters zurückzuführen ist.
Frühe Beschreibungen Asiens und Europas
Einen Wandel erfuhren die Beziehungen zwischen den Kulturen des Okzidents und des Orients nicht nur durch die Kreuzzüge, sondern auch durch mehrfache Einfälle der Mongolen im 13. Jahrhundert. Solche Ereignisse erweiterten den Horizont der Europäer und verschoben die Grenzen des »gedachten Europa«. In Folge wurden etwa die Franziskanermönche Johannes de Plano Carpini (1245 bis 1247) und Wilhelm von Rubruk (1253 bis 1255) zum mongolischen Großkhan entsandt. Sie verfassten die ersten detaillierten Beschreibungen über Teile Osteuropas sowie Vorder- und Zentralasiens. Später begab sich Odorich von Portenau (1314/18 bis 1331) von Italien aus nach Indien, China und in die Mongolei, um im päpstlichen Auftrag zu missionieren. Kurz vor seinem Tod diktierte er einem Mitbruder seinen prominenten Reisebericht über die Relatio de mirabilibus Orientalium Tatarorum.
Einen entscheidenden Einfluss auf das Bild Asiens in Europa hatte zudem der berühmt gewordene Reisebericht »Il Milione« des venezianischen Kaufmanns Marco Polo (1254-1324). Polo begann seine Reise 1271 als Siebzehnjähriger und kehrte 1295 in seine Heimatstadt Venedig zurück. Über lange, mühsame Land- und Seewege erreichte er verschiedene Regionen des asiatischen Kontinents. Seine umfangreichen Erzählungen, die detailreich von den Strapazen der Reise, Völkern, Ländern, Erlebnissen und Wundergeschichten berichten, wurden zahlreich abgeschrieben und übersetzt und fanden so eine rasche Verbreitung. Dabei wurden in Europa nicht nur die Berichte von Reisenden abendländischer Herkunft gelesen. Auch die Beschreibungen Reisender aus der Islamischen Welt, wie beispielsweise des Persers Raschid ad-Din (1247 bis 1318) oder des Marokkaners Ibn Baṭṭūṭa (1304-1369), wurden zunehmend rezipiert. Die Erzählungen über den Orient erstaunten und faszinierten die Daheimgebliebenen.
Besondere Reiseberichte des Spätmittelalters
Eine Besonderheit stellen die fiktiven Reiseberichte des Ritters Sir John Mandeville dar. Der unter einem Pseudonym verfasste Roman über eine Reise ins Heilige Land wurde von den Zeitgenossen im späten Mittelalter als realer Bericht angesehen. Ursprünglich um 1357 in nordfranzösischem Dialekt geschrieben, wurde er in mehrere Sprachen, im 15. Jahrhundert auch in das Deutsche, übersetzt. Er stieß auf großes Interesse, wenn nicht sogar auf die größte Leserschaft des Mittelalters. Da er zahlreiche Wunder beschrieb, nährte er die Fantasie und befriedigte die Neugier der Zeitgenossen, die diese sogenannten mirabilia im fernen, unbekannten Osten erwarteten.
Erwähnenswert ist auch der Reisebericht des Aichachers Johannes Schiltberger (ca. 1380-1427). Im Alter von sechzehn Jahren nahm er als Knappe an einem Kreuzzug des ungarischen Königs Sigismund gegen die Türken teil, um das seit 1394 belagerte Konstantinopel zu befreien. Der Kreuzzug endete 1396 an der unteren Donau mit der Niederlage bei Nikopolis, woraufhin Schiltberger in türkische Gefangenschaft unter dem Sultan Bāyezīd I. geriet. Seine Gefangenschaft dauerte 33 Jahre, ehe Schiltperger 1427 in seine Heimat zurückkehren konnte. Da viele Kriegsgefangene den Weg in die Heimat nicht zurückfanden oder ihre Erlebnisse nicht niederschrieben, ist sein Reisebericht eine Besonderheit.
Landeskundliche Interessen und kulturelle Reisen
Seit Ende des Ende 15. Jahrhunderts mehren sich »nüchterne« Beschreibungen der Fremde. Landeskundliche Interessen prägten beispielsweise die Schriften des in Ulm wirkenden Dominikanermönchs Felix Fabri (1438/39 bis 1502). In seinem Evagatorium beschreibt er das Heilige Land und unter anderem Ägypten. Ähnliche Strukturen prägen die Darstellung einer Reise ins Heilige Land (1483 bis 84) des Mainzer Domdekans Bernhard von Breydenbach. Dass Wundergeschichten nicht aus den überlieferten Reiseberichten verschwanden, sieht man etwa an den Tagebüchern des Christoph Kolumbus (ca. 1451 bis 1506). Er erwähnte immer wieder ihm unerklärliche Phänomene, die er auf seinen Entdeckungsreisen auf dem amerikanischen Kontinent erlebte. Nach der Jahrhundertwende begann man, Berichte nach Regionen, Ländern und Kontinenten zusammenzufügen. Als erster mehrbändiger Reisebericht gilt das Werk Delle navigationi et viaggi (1550) des italienischen Humanisten Giovan Battista Ramusio (1485 bis 1557). Im 16. Jahrhundert kamen kulturelle Reisen (Kavalierstouren / Bürgerliche Bildungsreisen) in Mode, auf denen junge Leute im Zuge ihrer Ausbildung einen bestimmten Kanon von Ländern besuchten.
Reiseberichte als historische Quelle
Mittelalterliche Reiseberichte lassen sich aus verschiedenen historischen und literaturwissenschaftlichen Perspektiven untersuchen. Sie überliefern Fakten über die Expansion Europas, über Handelsbeziehungen oder über die »Weltsicht« des Abendlandes, um nur einige Beispiele zu nennen. Der Wert von Reiseberichten als Quelle für kulturgeschichtliche Fragestellungen wurde seit den 1970er Jahren erkannt. Reiseberichte eröffnen Zugang zum kulturellen Selbstverständnis ihrer Verfasser und lassen sich als bewusstes oder unfreiwilliges Zeugnis der Selbstdarstellung interpretieren. Seit den 1980er Jahren differenzierten sich das quellenkritische Bewusstsein und die Terminologie durch die zunehmende Aufarbeitung von Quellenbeständen.
Quellenkritische Hinweise
Die eigene Kultur im Zentrum des Weltbildes: Die Bildung oder auch Erfahrungen des Reisenden beeinflussen seine Wahrnehmung. Tradiertes und in der Herkunftswelt des Reisenden als allgemein geltendes Wissen weckt Erwartungen, bildet Vorurteile und beeinflusst die Deutung des Erlebten.
Der Fokus auf der Fremde: Je weiter die Gebiete von der eigenen Heimat entfernt liegen, umso häufiger beschreiben Reisende Details über ihre Natur, Bewohner oder Sitten. Sie erwähnen das, was ihnen fremdartig vorkommt und die Leser in Erstaunen versetzen soll.
Vergleiche von Unbekanntem mit Vertrautem: Die Ordnung der Gesellschaft messen Beobachter beispielsweise mit heimischen Sitten und moralischen Vorstellungen. Wenn das Vorwissen nicht ausreicht, um das Gesehene richtig zu deuten, versuchen sie sich oft an Erklärungen oder reduzieren das Fremdartige auf Be- oder Erkanntes.
Der Orient als Gegenstück des Abendlandes: Reisende aus Europa fassen die Länder im Fernen Osten meist als Ganzes zusammen. Die Beschreibungen des Orients enthalten viele schematisierend anmutende Erläuterungen und Stereotype. Auch der Topos der »wilden Menschen« gehört zur Peripherie und soll den Gegensatz zur »zivilisierten Welt« unterstreichen. Da in der Vorstellung des Mittelalters im Orient die mirabilia verortet wurden, erwarteten zudem viele Daheimgebliebene zahlreiche Wundergeschichten.
Legitimation der Augenzeugenschaft: Die Leser zweifelten Erzählungen oft an, wenn diese ihren Wahrnehmungshorizont überstiegen. Um nicht als Lügner zu gelten, fügen die Autoren deshalb ihren Beobachtungen „autorisiertes Wissen“ hinzu. Oft wird dem Bericht außerdem eine Beteuerung seiner Authentizität vorangestellt, meist wird diese vielfach im Text wiederholt.
Rückgriff auf bekannte Vorbilder: Neben den fiktiven Darstellungen von John Mandeville oder den Reiseberichten der Mönche Odorich von Portenau sowie Wilhelm von Rubruk, zitieren Autoren häufig naturkundliche sowie geographische Werke. Zur Basis des abendländischen Wissens über den Orient gehören unter anderem die Werke des Plinius und Isidors von Sevilla. Zudem greifen Reisende auf das tradierte Wissen aus theologischen Werken, der Prosa oder auch auf bildliche Darstellungen zurück.