Was sind Reichstagsakten?

von Gabriele Annas (Frankfurt)

Lesezeit: ca. 6 Minuten

Die wechselvolle Geschichte der „Deutschen Reichstagsakten“ verweist nicht zuletzt auf die spezifische Quellenproblematik, die mit diesem Editionsunternehmen verbunden ist. Denn die hier zusammengestellten (und zumeist ungedruckten) Schriftstücke können keinem spezifischen mittelalterlichen Quellentypus „Reichstagsakten“ zugeordnet werden.

Vignette der Historischen Kommission
© Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Typologische Vielfalt

Undatierte Notiz (nach April 1925) eines unbekannten Mitarbeiters der "Deutschen Reichstagsakten" zur Benutzung der Prager Bibliothek Lobkowitz, Sammlung der Arbeitsstelle Frankfurt der "Deutschen Reichstagsakten, Ältere Reihe"
Transkription

Prag, Bibl[iothek]. Lobkowitz
Allgemeines:
Die Bibliothek befindet sich auf der Kleinseite unter dem Hradschin im Lobkowitz-Palais, Welsche Gasse ( ) 19. Privatbibl[iothek]., deshalb zur Benutzung besondere Erlaubnis erforderlich. Gesuch vorher! an Fürstin Josefine Lobkowitz zu richten. Die Erlaubnis wird dann zweifellos erteilt. Prof. Q[uidde]. konnte daher die Bibl[iothek]. auf der Durchreise im April 1925 nicht benutzen. Es gab zu dieser Zeit auch keinen Bibliothekar; Q[uidde]. verhandelte mit dem Hausverwalter oder etwas ähnlichem. [Nachtrag]: Gilt nicht mehr, ist jetzt Bestand Lobkow. der Nat[ional]. Bibl[iothek].

Die im Rahmen der „Deutschen Reichstagsakten“ bearbeiteten Schriftquellen zeichnen sich durch eine bemerkenswerte typologische Vielfalt aus, die sich aus dem konkreten Editionsauftrag selbst – wissenschaftliche Dokumentation spätmittelalterlicher Reichsversammlungen – ableitet. In diesem Sinne konstatiert denn auch Johannes Helmrath, einer der führenden deutschen Reichstagsakten-Editoren:
„Die Reichstagsakten sind kein authentischer mittelalterlicher Quellentyp, sondern das Produkt gelehrter Komposition durch das gleichnamige Editionsunternehmen. Die Reichstagsakten publizieren diejenigen Schriftquellen, die im Reich bei Vorbereitung und Abhaltung von königlichen und kurfürstlichen Tagen sowie von Fürsten- und Städtetagen bzw. flankierend zu ihnen entstanden sind: Ladungsschreiben, Teilnehmer- und Quartierlisten, Briefe, Gesandtenberichte, Reden, protokollarische Aufzeichnungen, königliche Propositionen, (Gegen-)Vorschläge der Stände, Abschiede etc.“

Entsprechend vielgestaltig ist das in Archiven und Bibliotheken zu sichtende Schriftgut, können doch reichstagsrelevante Schriftstücke in durchaus unterschiedlichen Zusammenhängen überliefert sein. Fürstliche und städtische Amtsbücher (u.a. Boten- und Bürgermeisterbücher, Rechnungsbücher, Briefeingangregister und Kopialbücher) sind hier ebenso zu berücksichtigen wie gelehrte klösterliche Miszellanhandschriften, Briefsammlungen humanistischer Prägung und umfangreiche Aktendossiers mit Originalschreiben und/oder Abschriften.

Zeitgenössische Aktensammlungen

Sammlungen mit wichtigen Schriftstücken zur Geschichte einzelner Reichsversammlungen des späten Mittelalters wurden bereits seit der Mitte des 15. Jahrhunderts verschiedentlich zusammengestellt: an fürstlichen Höfen, im städtischen Kontext oder durch die heranwachsende politische Funktionelite der gelehrten Räte. Weder auf Vollständigkeit angelegt noch durch einen offiziell-verbindlichen Charakter ausgewiesen, orientierten sich die betreffenden Bestrebungen an den je individuellen diplomatisch-archivalischen Sammelinteressen der einzelnen Protagonisten. Fürstlicher Sammeleifer in Gestalt des „kaiserlichen Buchs“ Markgraf Albrechts von Brandenburg (1414-1486) begegnet hier den geschickten Bemühungen gelehrter Räte, sich durch den Besitz „privat“ angelegter Aktendossiers als Träger und Vermittler machtpolitischen Wissens zu positionieren. Und auch die städtischen Ratskanzleien Nürnbergs und Frankfurts richteten mit ihren reichspolitischen Interessen den sammelnden Blick auf Ladungsschreiben, Verhandlungsprotokolle, Matrikularlisten (mit Angaben zu militärischen Truppenleistungen) und Abschiede – um nur die wichtigsten Beispiele zu nennen.

Das Mainzer Erzkanzlerarchiv

Seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert wurden schließlich in der Kanzlei des Mainzer Erzbischofs – Kurfürst und Reichserzkanzler der deutschen Herrschaftsgebiete – umfangreiche Aktensammlungen mit Schriftstücken angelegt, die im Kontext der verfahrenstechnisch zunehmend formalisierten Reichstage entstanden waren. Der Bestand „Reichstagsakten“ im organisatorisch übergeordneten „Mainzer Erzkanzlerarchiv“ (heute: Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien) reicht mit einzelnen Schriftstücken zwar bis in das 14. Jahrhundert (1366) zurück, doch liegt der zeitliche Schwerpunkt des Quellenmaterials auf den Reichsversammlungen der Jahre 1486 bis 1673.

Internationale Recherchen in Archiven und Bibliotheken

Für die Reichsversammlungen des späten Mittelalters kann das Editionsunternehmen in diesem Sinne nicht auf festgefügte Quellencorpora zurückgreifen, die an zentralen Aufbewahrungsorten im Gebiet des ehemaligen Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation eingelagert sind. Die zu edierenden Aktenbestände müssen vielmehr auf der Grundlage umfangreicher und bisweilen langwieriger Recherchen in zahlreichen kleineren und größeren Archiven und Bibliotheken je individuell konfiguriert und konstituiert werden.

Reichstagsrelevante Bestände befinden sich im Berliner Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz und in den Archives Générales Du Royaume (Brüssel) ebenso wie im Hospitalarchiv zu Bernkastel-Kues und im Archivio del Convento Francescano in Capestrano (L’Aquila), in der Österreichischen Nationalbibliothek (Wien) und der Biblioteca Nazionale Marciana in Venedig ebenso wie in der Bibliothèque municipale in Troyes und der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel.

Notizen Ludwig Quiddes zu reichstagsrelevanten Beständen auf der Grundlage eines Repertoriums - entstanden bei einem Besuch des heutigen Hauptstaatsarchivs Stuttgart im Januar 1926, Sammlung der Arbeitsstelle Frankfurt der "Deutschen Reichstagsakten, Ältere Reihe"
Auszug aus dem Verzeichnis der für Band 19/II der "Deutschen Reichstagsakten, Ältere Reihe" benutzten Archiv- und Bibliotheksbestände: Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Friedrich III., 5. Abteilung, 2. Teil. Reichsversammlung zu Frankfurt 1454, bearb. von Johannes Helmrath (Deutsche Reichstagsakten Ältere Reihe 19/II), München 2013, S. 968 © Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Erleichtert werden die entsprechenden Recherchen nicht nur durch eine immer weiter voranschreitende inhaltliche Tiefenerschließung einschlägiger Archiv- und Bibliotheksbestände, sondern auch durch die zunehmende Digitalisierung mittelalterlichen Schriftguts sowie – damit eng verbunden – durch fachspezifische Informations-Portale. Im Rahmen des länderübergreifenden Kooperationsprojekts des Archivinformationssystems Arcinsys eröffnen sich beispielsweise vielfältige Online-Recherchemöglichkeiten zu Archivbeständen in HessenSchleswig-Holstein, Niedersachsen und Bremen. Die Online-Portale Manuscripta Mediaevalia und Manuscripta.at – Mittelalterliche Handschriften in Österreich erschließen darüber hinaus zahlreiche Handschriften, Handschriftensammlungen und -kataloge des deutschen und außerdeutschen Sprachraums.

Zitiervorschlag
Gabriele Annas: Was sind Reichstagsakten?, in: Mathias Kluge (Hg.), Mittelalterliche Geschichte. Eine digitale Einführung (2021). URL: https://mittelalterliche-geschichte.de/annas-gabriele-04