Quellen1. ÜberlieferungsgeschichteBibliotheken im Mittelalter

Bibliotheken im Mittelalter

von Andreas Kosuch (Augsburg)

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Die germanischen Stämme der Völkerwanderungszeit, die im Verlauf des 5. Jahrhunderts ihre Reiche auf dem Territorium des westlichen Imperium Romanum gegründet haben, waren zunächst schriftlose Gesellschaften, in denen Stammesgeschichte und Rechtstraditionen ausschließlich mündlich überliefert wurden. Schrift und Buch hielten erst allmählich durch den anhaltenden Kulturaustausch mit der römischen Zivilisation Einzug bei den Germanen, doch blieb der Alphabetisierungsgrad selbst in der neuen germanisch-romanisch Oberschicht so gering, dass man von einem weitgehenden Verschwinden der Laienschriftlichkeit im frühen Mittelalter sprechen kann. Bis ins 12. Jahrhundert hinein besaß die christliche Kirche das Schrift- und Bildungsmonopol, wobei insbesondere die Klöster zum Hort von Bildung, Gelehrsamkeit und schriftlicher Überlieferung wurden.

Dominikaner und Franziskaner singen unter der Leitung Jesu. Illustrierung der Abbey Bibel (1250-1262), Getty Museum, Ms 107, fol. 224r (Detail). [Liz.: CC BY 3.0]

Nicht von ungefähr verglich der Regularkanoniker und Bibliothekar Gottfried von St. Viktor um 1170 ein Kloster ohne Bibliothek mit einer Festung ohne Rüstkammer (Claustrum sine armario quasi castrum sine armamentario), und ein Blick in die verschiedenen Ordensregeln unterstreicht den hohen Stellenwert, den das Buch in der christlichen Klosterkultur einnahm. Neben der lectio divina im Gottesdienst wurde auch bei Tisch ein Mönch mit der Lesung beauftragt, die von allen Mitbrüdern während des Essens andächtig verfolgt werden sollte. Darüber hinaus war die individuelle Lektüre fester Bestandteil des geregelten Tagesablaufs, der Sonntag blieb sogar ganz der Lektüre vorbehalten. Da den Mönchen aber jeglicher Privatbesitz untersagt war und sie „kein Buch, keine Schreibtafel, keinen Griffel “ (Regula Benedicti 33, 3) ihr Eigentum nennen durften, war der kollektive Bücherbesitz der Klostergemeinschaft die logische Folge und führte zur Entstehung der Klosterbibliotheken.

Bestände: Christliche Werke und antike Profanliteratur

Der Umfang einer mittelalterlichen Klosterbibliothek war gemeinhin recht überschaubar und lag im Durchschnitt bei etwa 300 Codices, kleinere und weniger bedeutende Konvente zählten oft auch nur einige Dutzend Bände. Da es sich bei den Codices jedoch zumeist um Sammelhandschriften handelte, lag die Zahl der einzelnen Werke, die eine Klosterbibliothek besaß, um einiges höher. Thematisch überwog die christliche Literatur, allen voran die Bücher der Bibel sowie Werke und Kommentare der patristischen und zeitgenössischen Theologie, ferner aber auch antike Profanliteratur und (spät-)antike Lehrbücher wie z. B. die weit verbreitete lateinische Grammatik des Aelius Donatus, denn schließlich war die Beherrschung des Lateinischen die Grundvoraussetzung jeglicher Lektüre. 

Die Bibliotheken der Klöster Lorsch und Reichenau werden im frühen 9. Jahrhundert mit ihren ca. 590 bzw. 415 Codices in jedem Fall schon zu den größeren des Frankenreichs gezählt haben. Leider sind Bücherverzeichnisse aus dieser Zeit nur selten vollständig überliefert, sondern meist fragmentarisch erhalten, wie etwa für das Kloster Fulda, dessen Abt Hrabanus Maurus nach Auskunft des Catalogus abbatum Fuldensium zu Beginn des 9. Jahrhunderts eine so umfangreiche und prachtvolle Bibliothek angehäuft habe, dass man die Anzahl der Bücher kaum feststellen könne. Anhand verschiedener Kataloge aus dem 16. Jahrhundert lässt sich der karolingerzeitliche Bestand in Fulda auf etwa 800 Handschriften beziffern, einige Schätzungen gehen sogar von bis zu 2000 Codices aus.

Der Bibliotheksraum – armarium, librarium, bibliotheca

Die Bibliothek war kein eigenes Gebäude innerhalb des Klosters, sondern lediglich ein eigener Raum, in dem die Bücher gelagert wurden. Die Quellenbegriffe für den Bibliotheksraum sind zumeist armarium oder librarium, seltener bibliotheca, wobei damit auch nur der einzelne Bücherschrank oder die einzelne Bücherkiste gemeint sein kann. Der berühmte Klosterplan von St. Gallen sah über dem Scriptorium einen Raum von 144m2 mit Platz für ca. 600 Codices vor.

Oft wurden Bücher im Kloster auch direkt an dem Ort aufbewahrt, wo sie benötigt wurden: die Lektüre für die Tischlesung im refectorium, die Ordensregel im Kapitelsaal, die Bücher für den Gottesdienst in der Sakristei. In einigen Klöstern befanden sich im Kreuzgang sog. Büchernischen. In diesen meist mit Holz verkleideten Nischen wurden Bücher für den allgemeinen Gebrauch gelagert. In jedem Fall war es bis ins späte Mittelalter hinein üblich, die Bücher nicht offen in Regale zu stellen, sondern – wie es sich für Kostbarkeiten gehörte – in verschlossenen Kisten und Schränken zu lagern.

Ehemalige Büchernische der Zisterzienserabtei Santa María de Moreruela, Foto von Solbaken auf Wikipedia [Liz.: CC BY 3.0]

Bibliotheksbenutzung und Ausleihe

Den Schlüssel für die Bücherkisten und -schränke hatte zumeist der Kantor, der zugleich die Aufgaben eines Bibliothekars (armarius, librarius, bibliothecarius) wahrnahm und nicht selten auch dem Scriptorium vorstand. Der Bibliothekar trug Sorge für die sachgerechte Aufbewahrung und Inventarisierung der Bücher, wählte den Text für die Lesungen im Gottesdienst und bei Tisch aus und hatte die Ausleihe von Büchern an die Mitbrüder zu organisieren. Die Ausleihe eines Codex wurde vom Bibliothekar schriftlich vermerkt, entweder direkt im Katalog oder in einem eigens dafür angelegten Ausleihregister. Eine Ausleihe an externe Leser wurde meist nur ungern gestattet.

Das Studium der Bücher fand an verschiedenen Orten im Kloster statt. Der Bibliotheksraum selbst war oft mangels Ausstattung nicht als Lesesaal geeignet. In einigen Klöstern wissen wir von einem kleinen beheizten Nebenraum, der als Leseplatz vorgesehen war, oftmals nahmen die Mönche das gewünschte Buch aber entweder mit in ihre Zelle, lasen es in der Kirche oder im sog. Lesegang, dem der Kirche anliegenden Teil des Kreuzganges.

Bibliothek auf dem Klosterplan von St. Gallen

Im späten Mittelalter gingen die Bibliotheken dazu über, die Bücher nicht mehr nur in Kisten und Schränken wegzusperren, sondern in offenen Regalen und auf Pulten zu lagern, wobei die fachliche Aufstellung weitgehend beibehalten wurde. Damit wurden die Bibliotheken zweifelsohne benutzerfreundlicher, wenngleich nun die einzelnen Bücher zum Schutz vor Diebstahl angekettet werden mussten. In den sog. Pult- und Kettenbibliotheken lagen die Bücher nebeneinander auf den entweder ein- oder doppelseitigen Pulten, jedes mit einer Kette versehen, die durch eine Öse am oberen Rand des Einbandes gezogen und mit einer am Pult befestigten Eisenstange verbunden war. Es gab Sitz- und Stehpulte, letztere hatten meist eine zweite Bücherreihe auf Kniehöhe.

Kettenbibliothek des Vatikan
Kettenbibliothek der Hereford Cathedral

Bestandserschließung: Inventar und Katalog

Die vom Bibliothekar angelegten Bücherverzeichnisse waren oftmals ungeeignet, um dem Benutzer eine inhaltliche Bestandserschließung zu ermöglichen, da es sich zumeist nur um schlichte Inventarlisten handelte. Hilfreich für die Orientierung war die in vielen Klöstern anzutreffende thematisch geordnete Aufstellung der Bücher, die in etwa dem Schema entsprach, das Bischof Isidor von Sevilla bereits um 600 n. Chr. entworfen hatte: Bibel, Patristik, zeitgenössische Theologie und Profanliteratur. Aus dem späten Mittelalter sind zunehmend Standortkataloge überliefert, die im Unterschied zu den schlichten Inventarlisten alle in einer Sammelhandschrift enthaltenen Werke verzeichneten, und angaben, in welcher Kiste oder in welchem Schrank sich das gesuchte Buch befand.

Die Inventare bzw. Kataloge wurden zunächst nur auf leeren Seiten am Ende einer Handschrift angefügt, ab dem 12. Jahrhundert sind Kataloge zunehmend auch in einem eigenen Codex zu finden. Mitunter wurden sie auf Holztafeln in der Bibliothek plakatiert oder Inhaltslisten an den Kisten, den Seitenwänden der Schränke oder Pulte befestigt, um dem Benutzer Aufschluss über die darin enthaltenen Werke zu geben.

Ältestes Bücherverzeichnis der Stiftsbibliothek von St. Gallen

Die Entstehung der Universitätsbibliotheken im späten Mittelalter

Zu den umfangreichsten Kettenbibliotheken des Spätmittelalters gehörten zweifelsohne die neu entstandenen Universitätsbibliotheken in Paris und Oxford. Der Umfang der Universitätsbibliotheken war verglichen mit heutigen Einrichtungen äußerst bescheiden. Die größte Universität des Mittelalters, die Sorbonne in Paris (benannt nach dem von Robert de Sorbon gegründeten Kolleg), hatte im 14. Jahrhundert ca. 2000 Studenten; ein Katalog aus dem Jahr 1338 verzeichnet 1722 Codices. In Deutschland waren die Universitätsbibliotheken nochmals deutlich kleiner. Heidelberg und Erfurt waren im 15. Jahrhundert mit jeweils ca. 800 Codices am besten ausgestattet.

Die Benutzungsstatuten der einzelnen Universitätsbibliotheken waren höchst unterschiedlich. Die deutschen Universitätsbibliotheken waren in der Regel mit Kettenbüchern ausgestattete Präsenzbibliotheken, zu denen nur die Professoren, selten aber die Studenten Zugang hatten. Wer das Privileg der Bibliotheksbenutzung genoss, bekam den Bibliotheksschlüssel ausgehändigt und hatte somit ungehinderten Zugriff auf die Büchersammlungen. Die Oxforder Bibliotheksordnung von 1412 schränkte den vormals freien Zugang zur Bibliothek ebenfalls ein und gestattete das Lesen in den Bibliotheksräumen nur noch Absolventen, die bereits acht Jahre Philosophie studiert hatten. An der Pariser Sorbonne wurde schon im 13. Jahrhundert neben dem angeketteten Präsenzbestand (magna libraria) ein Bestand an Büchern geführt, der auch zur Ausleihe vorgesehen war (parva libraria). Ähnlich wurde es auch in Oxford gehandhabt. Thematisch waren die Universitätsbibliotheken oft stark an den jeweiligen Unterrichtsschwerpunkten und Lehrtraditionen der Einrichtung ausgerichtet. Für gewöhnlich dominierten weiterhin die theologischen und philosophischen Werke, erst im späten 15. und 16. Jahrhundert nahmen auch die Bestände an humanistischer Profanliteratur deutlich zu.

Zitiervorschlag
Andreas Kosuch: Bibliotheken im Mittelalter, in: Mathias Kluge (Hg.), Mittelalterliche Geschichte. Eine digitale Einführung (2021). URL: https://mittelalterliche-geschichte.de/kosuch-andreas-01