Sozialgeschichte

von Marcel Korge (Leipzig)

Lesezeit: ca. 9 Minuten

Im Allgemeinen stehen soziale Gruppen, zwischenmenschliche Phänomene und gesellschaftliche Strukturen, also Facetten der sozialen Wirklichkeit, im wissenschaftlichen Fokus von Sozialhistorikerinnen und Sozialhistorikern. Den im deutschsprachigen Raum traditionell eng mit der Wirtschaftsgeschichte verbundenen Forschungsansatz „Sozialgeschichte“ detaillierter zu definieren, ist nicht einfach. Hierfür ist neben sich ändernden Gegenstandsbereichen, Theorien und Methoden vor allem die Existenz zweier unterschiedlicher Herangehensweisen ursächlich. Die bundesdeutsche Historikerschaft der 1970er- und 1980er-Jahre war in ihrem Verständnis, was unter Sozialgeschichte zu verstehen sei, gespalten. Dies löste innerhalb der Geschichtswissenschaft teilweise sehr heftige Debatten um den Status der Sozialgeschichte aus.

Beitragsbild: Miniature de la construction du Temple de Salomon Quelle: BNP

So versteht man einerseits unter dem Begriff Sozialgeschichte jenen Teil der Geschichte, dessen primäres Erkenntnisobjekt die gesellschaftliche Ordnung in all ihren Aspekten ist. Demnach sollen Entstehung, Wandel und Wechselbeziehungen sozialer Gruppen, Stände, Klassen, Schichten, Milieus, Generationen, Geschlechter, ihre Lebensbedingungen und Lebensweisen sowie die verschiedenen Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation (z. B. Vereine, Parteien, soziale Bewegungen) untersucht werden. In diesem Sinne handelt es sich bei Sozialgeschichte um eine geschichtswissenschaftliche Sektorwissenschaft (unter vielen). D.h. es wird ein spezieller historischer Themenausschnitt betrachtet.

Andererseits entstand seit den 1940er-Jahren (im deutschsprachigen Raum seit den 1960er-Jahren) bei Teilen der Historikerschaft ein Verständnis von Sozialgeschichte als einer umfassenden „Strukturgeschichte“, „Gesellschaftsgeschichte“ bzw. „Historischen Sozialwissenschaft“. Das beinhaltete grundsätzlich einen anderen Anspruch für das Verständnis von Geschichte. Es sollte die gesamte Geschichte in all ihren Teilbereichen (Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur) unter gesellschaftlichen bzw. sozialen und ökonomischen Perspektiven und Fragestellungen analysiert werden. Das sollte insbesondere in Abgrenzung zur traditionellen „Politikgeschichtsschreibung“ geschehen.

„Schulen“ und die Entstehung der Wirtschafts- und Sozialgeschichte

Bereits Ende des 18. Jahrhunderts verbanden Vertreter der „Göttinger Schule“ die klassische Geschichtserzählung mit der Beschreibung sozialer Verhältnisse. Als Basis hierfür sammelten sie Wirtschafts- und Bevölkerungsdaten. Daneben versuchten sich die frühen Soziologen (Karl Marx, später Georg Simmel, Max Weber) als auch die Vertreter der Älteren Historischen Schule der Nationalökonomie (Friedrich List) an der Theoriebildung zum gesellschaftlichen Wandel (z. B. soziale Stufentheorien). Die Jüngere Historische Schule der Nationalökonomie (z. B. Gustav Schmoller) wandte sich verstärkt der Untersuchung der Ursachen der Sozialen Frage und verschiedener sozialer Bewegungen zu. Sie alle beeinflussten die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entstehenden und in Deutschland stark miteinander verbundenen Teildisziplinen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte.

Abkehr vom Historismus

Dagegen beschränkten sich die Vertreter der klassischen Geschichtsschreibung (Historismus) auf die Erzählung von Geschichte im Sinne der Taten „großer“ Männer und „wichtiger“ (staats-)politischer Ereignisse. Diese Beschränkung nennt man politischen Reduktionismus. Diese eher konservativen Historiker übten sich in der Anwendung der „philologischen Methode“ (Hermeneutik) und beharrten auf der Einzigartigkeit historischer Phänomene, die sich jeglichen idealistischen Typenbildungen oder evolutionären Modernisierungstheorien widersetzen würde. Mit den rasant voranschreitenden sozioökonomischen Verhältnissen (Urbanisierung, Industrialisierung, Soziale Frage) geriet der politikzentrierte Historismus allerdings zunehmend in Kritik.

Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

Im deutschsprachigen Raum entwickelten Historiker wie Jacob Burckhardt und Karl Lamprecht unter dem Einfluss der verschiedenen erwähnten neueren Gruppierungen ein sozialhistorisches Verständnis von Geschichte. Publikationsorgan der neuen Richtung wurde die 1893 in Wien gegründete Zeitschrift für „Social- und Wirtschaftsgeschichte“. Diese Zeitschrift fand 1903 als „Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“ eine Fortsetzung.

Die Bielefelder Schule

Ein echter Perspektivwechsel zu sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Fragen und eine methodische Weiterentwicklung zur sogenannten „Historischen Sozialwissenschaft“ oder „Kritischen Geschichtswissenschaft“ erfolgte durch einige Historiker ab Mitte der 1960er-Jahre. Die Ansätze, Geschichtsforschung in Abgrenzung zur traditionellen, individualistischen, quellenpositivistischen Politikgeschichte mit sozialwissenschaftlichen Begriffen, Methoden und Theorien zu betreiben und überindividuelle, langfristig wirkende Strukturen identifizieren und erklären zu wollen, wurden namentlich durch Vertreter der Bielefelder Schule (Jürgen Kocka, Hans-Ulrich Wehler) bekannt.

Wichtige Instrumente dieser Forschergruppe wurden aus den Sozialwissenschaften übernommen. Zu nennen wären zum Beispiel die Bildung von „Idealtypen“ und Verlaufsmodellen sowie die Anwendung quantifizierender Methoden und historischer Vergleiche. Die Instrumente sollten dabei an die Eigenarten des geschichtswissenschaftlichen Forschungsgegenstandes angepasst werden. Jürgen Kocka schlug dazu vor, die Schriftquellen erschließenden und erklärenden Methoden (Hermeneutik) mit sozialwissenschaftlich-analytischen Methoden und Konzepte zu kombinieren. Diese neue Art, Sozialgeschichte zu betreiben, übte schnell eine hohe Anziehungskraft auf viele Historikerinnen und Historiker aus, blieb aber auf die Neuzeithistorie beschränkt. Dagegen wurde dem umfassenden Anspruch der „Historischen Sozialwissenschaft“, eine Gesamtgeschichte unter sozialgeschichtlicher Perspektive („Gesellschaftsgeschichte“) betreiben zu wollen, vielfach skeptisch bis ablehnend begegnet.

Die „Historische Sozialwissenschaft“ in den 1980er- und 1990er-Jahren

In den 1980er- und 1990er-Jahren verlor die „Historische Sozialwissenschaft“ allmählich an Innovationskraft und wurde von verschiedenen Seiten kritisiert. Man warf ihren Vertreterinnen und Vertretern eine Überbetonung des Einflusses sozioökonomischer Strukturen, eine Vernachlässigung des Wirkens der historischen Akteure und ein Ausblenden von Erfahrungs-, Wahrnehmungs- und Deutungsmustern vor. Die Vorwürfe zielten im Kern auf das problematische Verhältnis von „Strukturen“ und „Subjekten“. Sie konnten trotz methodischer Vermittlungsversuche in der Praxis nicht ausgeräumt werden. Zuletzt ebbten die Diskussionen innerhalb der Geschichtswissenschaft um die Standortbestimmung der Sozialgeschichte jedoch ab. Dies lag auch daran, dass andere geschichtswissenschaftliche Teildisziplinen wie die Neue Kulturgeschichte, die Mentalitätsgeschichte, die Alltagsgeschichte, die Historische Anthropologie oder die Frauen- und Geschlechtergeschichte deutlichen Zuspruch erfuhren, was die Bedeutung der Sozialgeschichte ein Stück weit relativierte. Eine tatsächlich in die Praxis umgesetzte Verbindung von sozialwissenschaftlichen Verfahren und neuen, beispielsweise kulturgeschichtlich orientierten Fragen könnte der deutschsprachigen Sozialgeschichte für die Zukunft eine Perspektive bieten.

Sozialgeschichtliche Mittelalterforschung

Im Folgenden wird noch speziell auf die sozialgeschichtliche Mittelalterforschung eingegangen. Sie besitzt im Gegensatz zur neuzeitlichen Sozialgeschichte eine ältere anthropologisch ausgerichtete Tradition. Bestimmte Personengruppen und deren Lebensbedingungen wurden hier frühzeitig in den Fokus der Forschung gerückt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konzentrierten die meisten deutschsprachigen Sozialhistorikerinnen und Sozialhistoriker ihre Untersuchungen auf das Mittelalter und die Frühe Neuzeit. Dabei nutzte man zunehmend Massenquellen wie Güterverzeichnisse und Wirtschaftsrechnungen. Neben Regionalstudien erbrachten auch auf bestimmte soziale Gruppen ausgerichtete Studien neue Sichtweisen auf die mittelalterliche Verfassung. Um 1960 wurden einige traditionelle Themenfelder der Mittelalterhistorie wie die Adelsforschung oder die Personenforschung unter sozialgeschichtlichem Blickwinkel wissenschaftlich untersucht. Unter anderem sind hier die Studien von Peter Classen, Dietrich Kurze, Friedrich Prinz oder Karl Schmid zu nennen.

Den eigentlichen Durchbruch einer sozialgeschichtlichen Perspektive in der Mediävistik erbrachten die Arbeiten von Karl Bosl (z. B. zur sozialen Mobilität im Mittelalter), der in der Mittelalterhistorie erstmals auch den Begriff der „Strukturgeschichte“ verwandte. Später rückte Bosl zugunsten des seiner Ansicht nach dynamischeren Begriffs der „Gesellschaftsgeschichte“ von der Bezeichnung „Strukturgeschichte“ ab. Beide Begriffe setzten sich in der Mediävistik aber nicht durch. Auch die Verbreitung des für die Neuzeit-Geschichtswissenschaft prominent vertretenen Ansatz der „Historischen Sozialwissenschaft“ misslang. Ursächlich war unter anderem die problematische Anwendung moderner sozialwissenschaftlicher Modelle und Theorien auf die mittelalterlichen Verhältnisse. Außerdem konnte auf eine eigene, ältere Traditionslinie, die mit der Rechts- und Verfassungsgeschichte eng verbunden und zudem bereits strukturgeschichtlich ausrichtet war, verwiesen werden. Dies nahm dem sozialwissenschaftlichen Ansatz einen Teil seiner Innovationskraft. Beispielsweise brachte das auf die mittelalterliche Stadtgesellschaft teilweise anwendbare, ältere Schichtungsmodell wichtige Anregungen für die Mediävistik in den 1970er-Jahren (Edith Ennen, Erich Maschke, Heinz Stoob). Zur gleichen Zeit wandte sich der Blick verstärkt dem sozialen Wandel, den sozialen Konflikten und vor allem seit den 1980er-Jahren den Unterschichten zu.

Die DDR-Mediävistik, die sich traditionell der „einfachen“ Bevölkerung (oder wie es hieß den „Volksmassen“) und sozialen Bewegungen und Auseinandersetzungen zugewandt hatte (Karl Czok, Siegfried Epperlein, Ernst Werner), besaß gegenüber der westdeutschen Mittelalterhistorie in den 1950er-Jahren einen Forschungsvorsprung. Diesen verlor sie bald wieder, da unter anderem politische Vorgaben das sozialgeschichtliche Themenspektrum einengten und man sich von der internationalen Wissenschaftsentwicklung abkoppelte. Versuche, die auf eine Verbindung west- und ostdeutscher Perspektiven zielten, scheiterten. Daher besann man sich letztlich in der Mediävistik in beiden deutschen Teilstaaten auf einige traditionelle Themenfelder mit begrenzten Fragestellungen. Wichtige sozialgeschichtliche Untersuchungen existieren unter anderem zur frühmittelalterlichen Grundherrschaft und zur spätmittelalterlichen Stadt, zum Klosterwesen und zum Bauerntum.

In jüngster Zeit wird in der sozialgeschichtlichen, gesamtdeutschen Mittelalterforschung verstärkt nach dem „Individuum“ und nach seinem Verhältnis zur „Gemeinschaft“ gefragt. Lebensformen und Lebensbedingungen spielen in diesem wechselseitig wirkenden Beziehungsgeflecht von „Subjekt“ und „Institution“ zentrale Rollen. Wichtige Teile der Sozialgeschichtsforschung des Mittelalters stellen die historische Familienforschung, die Kriminalitätsgeschichte und die Frauengeschichte dar. Besonders viele Studien beschäftigen sich mittlerweile auch mit der Erforschung der Lebenswelten unterschiedlichster Personengruppen. Dabei wird beispielsweise untersucht, wie bestimmte Akteure im Mittelalter lebten und starben, wohnten und wanderten, arbeiteten und feierten, aßen und tranken. All diese Teilbereiche gewinnen nicht zuletzt deshalb an Gewicht, weil sich die Verbindungen zwischen der hier vorgestellten Sozialgeschichte und einer seit einigen Jahrzehnten aufsteigenden (Neuen) Kultur- und Alltagsgeschichte weiter vertiefen.

Zitiervorschlag
Marcel Korge: Sozialgeschichte, in: Mathias Kluge (Hg.), Mittelalterliche Geschichte. Eine digitale Einführung (2021). URL: https://mittelalterliche-geschichte.de/korge-marcel-01