Schriftgeschichte

von Julia Knödler (Halle)

Lesezeit: ca. 9 Minuten

Text: Mitschrift der Filmaufnahme

Die Klassifizierung von Schriftformen hilft, Schriftträger zu datieren und zu lokalisieren. Ihre Kenntnis ist aber auch unabdingliche Voraussetzung, wenn es im Kontext bibliotheksgeschichtlicher, überlieferungsgeschichtlicher oder kulturgeschichtlicher Fragestellungen darum geht was Schrift an sich an historischem Aussagewert besitzt.

Film: Schriftgeschichte

Wandel der Schriftformen

Schreiber mit Wachstafel und Rotulus
(Universitätsbib. Heidelberg)

Die „Schriftgeschichte“ ist ein Teilbereich der Paläographie. Eines ihrer Hauptinteressen ist es, die Formgeschichte der Schrift zu verstehen (also warum und unter welchen Umständen bestimmte Schriftformen entstanden). Die Gründe des Wandels der Schriftformen können unterschiedlicher Natur sein. Einfluss auf die Ausgestaltung von Schrift haben Beschreibstoff und Schreibwerkzeug. Schriften können für den persönlichen Gebrauch geschrieben werden oder für die öffentlichkeit bestimmt sein. Sie können Ausdruck gottgefälligen Verhaltens sein, wie Prachtbibeln, oder politische Repräsentation enthalten, wie feierliche Urkunden. Schriftwandel findet vor allem im Spannungsfeld von kalligraphischem (also schönschriftlichem) und kursivem Schreiben (also schnellem Schreiben für den alltäglichen Gebrauch) statt.

Kalligraphische Schriften

Geschriebene Schriften lassen sich generell in zwei Gruppen einteilen: in kalligraphische und kursive Schriften. Unter kalligraphischen Schriften verstehen wir Schriften, deren Buchstaben aus Einzelstrichen zusammen gesetzt sind, wobei die Reihenfolge dieser Striche festgelegt ist. Festgelegt ist auch, wo dicke und dünne Striche stehen dürfen und wo Zierelemente eingesetzt werden. Diese („Schön-„) Schriften sind tendenziell statisch und kaum Veränderungsprozessen unterworfen.

Kalligraphische Schrift in einer Handschrift des 9. Jh.
(Stiftsbib. St. Gallen)

Kursive Schriften

Kursive Schrift in einem Brief des 15. Jh.
(Staatsarchiv Augsburg)

Anders verhält es sich bei kursiven Schriften, denen eine andere Schreibtechnik zugrunde liegt. Kursives Schreiben bedeutet schnelles Schreiben, das Schreibgerät wird weniger abgesetzt (nebeneinander liegende Striche werden in einem Zug geschrieben), Zierstriche werden eleminiert, Züge gegen die eigentliche Schreibrichtung vermieden, sogenannte Luftlinien werden mitgeschrieben, usw. Dabei können die Buchstaben auch auf verschiedene Weise zusammengebaut werden, die Strichreihenfolge kann variieren. Kursive Schriften sind dadurch auch wesentlich individueller als kalligraphische.

Neue Schriftarten

Neue Schriftarten entstehen, indem kalligraphische Schriften kursiv ausgeführt werden, oder indem kursive Schriften kalligraphisch verdichtet werden. Wie auf der Basis einer kalligraphischen Schrift eine kursive Schrift entsteht und die Kursive wiederum Ausgangpunkt einer kalligraphischen Schrift sein kann, soll zunächst an einem Beispiel aus der römischen Antike demonstriert werden.

Bronzeurkunde und Bleitäfelchen
(Archäologische Staatssammlung München)

Römische Kapitalis

Römische Bronzeurkunde
(Archäologische Staatssammlung München)

Sie sehen hier in Bronze geritzt die sogenannte römische Kapitalis, das erste lateinische Alphabet mit den uns bekannten Buchstaben. Über Zwischenstufen ist dieses Alphabet, das nur aus Großbuchstaben besteht (eine sogenannte Majuskelschrift ist), aus dem Westgriechischen entstanden und wurde bis ins frühe Mittelalter als Schrift für wichtige Dokumente oder für gehobene Literatur angewendet. Wir finden diese Schrift auf Papyri, auf Pergament, aber auch in Inschriften oder wie hier auf der Bronzetafel. Das Dokument bestätigt die Verleihung des römischen Bürgerrechts an einen Helvetier. Man sieht auf den ersten Blick, dass die Buchstaben sehr einheitlich gebaut sind, es gibt keine Varianz in Größe oder Ausführung.

Römische Kursive

Ganz anders unser zweites Beispiel, das den Einsatz von Schrift in einem komplett anderen Kontext zeigt. Es handelt sich hier um ein Tontäfelchen, auf dem ein Liebeszauber eingeritzt ist, und das an einem magisch wirksamen Ort hinterlegt seine Kraft entfalten sollte. Bei der Schrift – dem magischen Verwendungszweck entprechend hier übrigens teilweise spiegelverkehrt – auf diesem Täfelchen handelt es sich um die sogenannte ältere römische Kursive, eine Schrift, die entsteht, wenn Formen der Kapitalis dem kursiven Schreibprozess unterzogen werden. Mit expansivem Schriftgebrauch im Alltag wurde die Schriftführung flüssiger und flüchtiger. So entstand parallel zur römischen Kapitale die sogenannte römische Kursive. Aus Gründen der Schreibökonomie entstanden die auf wesentliche Formelemente reduzierten Kleinbuchstaben (Minuskelschrift). Ist beispielsweise auf der Bronzetafel das E aus 4 Strichen zusammengesetzt, sehen Sie hier den Buchstaben mit nur 2 Stichen gebaut: der erste und zweite Strich des ursprünglichen E werden also zusammengefasst und der dritte Strich gleich ganz eliminiert.

Liebeszauber auf römischer Bleitafel
(Archäologische Staatssammlung München)

Unziale

Unziale in einer Handschrift
(BSB München)

Im 7. Jahrhundert finden wir dann mit der Unziale eine Schrift, die in vielen ihrer Formen auf der römischen Kursive basiert. Wie an Formähnlichkeiten und -unterschieden erkenn- und klassifizierbar wird, haben viele Buchstaben dieser Schriftform ihre Basis in der älteren römischen Kursive. Wenn Sie hier das E betrachten, werden Sie erkennen, dass es sich mit seinen runden Halbbögen um eine Kalligraphisierung der Form aus der älteren römischen Kursive handelt. Nur wird hier der Buchstabe wieder aus 3 Strichen zusammengesetzt, mit Haar- und Schattenstrich versehen und immer gleich gestaltet. Die wissenschaftliche Bezeichnung dieses Schrifttyps ist in Anlehnung an ein Zitat des Hieronymus entstanden, das sich auf die „zollgroßen“ Buchstaben („litterae unciales“) christlicher Prachthandschriften bezog.

Nationalschriften

Durch kalligraphische Verdichtung entstanden in der Spätantike und vor allem im frühen Mittelalter in den unterschiedlichen Regionen des ehemaligen römischen Reiches verschiedene kalligraphische Schriften. Diese Ausdifferenzierung des Schriftwesens wurde durch den Zerfall des Imperiums flankiert. Beispiele für diese sogenannten „Nationalschriften“ sehen Sie hier: Die Beneventana ist die Schrift Süditaliens, ein wichtiges Zentrum ist das Kloster Monte Cassino. Obwohl die Schrift sehr schön ist, haben wir einige Probleme, sie zu lesen. Denn sie enthält viele Formen, die aus der Kursive stammen, wie z.B. das 8erförmige t.

Beneventana
(BSB München)

Insularis

Insularis
(BSB-München)

Die Insulare Schrift entstand im Irland des 6. Jahrhunderts durch Umstilisierung von Schriften, welche die christlichen Missionare von Italien aus importierten, vor allem Unziale und Halbunziale. Von Irland aus wurde diese Schrift dann zuerst durch irische Missionare nach England und dann durch irische und angelsächsische Missionare auf das Festland „exportiert“. Man kann sich gut vorstellen, dass Schriften aus dem einen Kloster in einem anderen Kloster manchmal nur mit Mühe gelesen werden konnten. Dass irgendwann das Bedürfnis nach einer klaren, leicht lesbaren und ästhetisch ansprechenden Schrift entstand, liegt auf der Hand. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Entstehung einer solchen Schrift waren um 800 gegeben.

Karolingische Minuskel

Am Hof Karls des Großen waren Wissenschaftler und Dichter versammelt, man interessierte sich wieder für klassische Literatur und Sprache, es entstand ein reger Handschriften-Austausch zwischen diesem Zentrum und den einzelnen Klöstern im Reich. Auf diese Weise wurden auch Schriftformen, die besonders gelungen waren und die man gut lesen konnte, verbreitet, die Skriptorien des einen Klosters übernahmen gelungene Buchstabenformen des anderen Klosters und so entstand allmählich eine einheitliche Schrift, die individuelle Relikte der Kursiven vermied und die durch ihre Klarheit bestach: die Karolingische Minuskel, die bis ins 12. Jahrhundert in fast ganz Europa geschrieben als eine Art Einheitsschrift Verwendung fand. Sie sehen hier ein Beispiel aus derselben Handschrift und werden merken, dass Ihnen das Lesen sehr leicht fällt, da die Schrift kaum Ligaturen und Abkürzungen verwendet und die Einzelbuchstaben eindeutig sind.

Karolingische Minuskel

Gotische Kursive

Gotische Kursive
(BSB-München)

Im Spätmittelalter war Schreiben nicht mehr auf den monastischen Bereich beschränkt, sondern in ganz Europa ist eine enorme Steigerung von Schriftlichkeit in Verwaltung, Wissenschaft und im Wirtschaftsleben der Städte zu sehen. Dies hatte eine stärkere Differenzierung der Schrift je nach Gebrauchskontext zur Folge: das Spektrum reicht von sehr normierten Buchschriften bis zu stark individuellen Kursivschriften. Hier sehen wir zwei Schriftbeispiele aus dem Spätmittelalter. Der erste Text ist ein studentischer Musterbrief, in einer gotischen Kursivschrift verfasst. Sie ist in Schreibrichtung rechts geneigt, die Buchstaben werden meist in einem Zug geschrieben, wir sehen, dass Luftlinien mitgeschrieben werden und auf diese Weise Schlaufen entstehen. Die „deutsche Schreibschriften“ wie z.B. die Sütterlin-Schrift haben ihre Wurzeln im übrigen in den gotischen Kursivschriften.

Bastarda

Wird eine gotische Kursivschrift (es gibt viele verschiedene Formen der gotischen Kursive) auf ein höheres kalligraphisches Niveau gehoben, spricht man der traditionellen Terminologie folgend von einer „Bastarda“. Ein solches Beispiel sehen Sie hier. Im Vergleich zur Kursive fällt auf, dass die Schlaufen nun Zierelemente und nicht mehr Produkt des schnellen Schreibens sind, dass die Buchstaben aus Einzelstrichen bestehen und dass sich Haar- und Schattenstrich abwechseln. Der Wandel der Schriftformen kann verschiedene Gründe haben, die wie bei der Etablierung der karolingischen Minuskel als „Einheitsschrift“ oder wie im Falle der Ausdifferenzierung der Schriftformen im Spätmittelalter. In der Wissenschaft hilft uns die Klassifizierung von Schriftformen Schriftträger zu datieren und zu lokalisieren. Ihre Kenntnis ist aber auch unabdingliche Voraussetzung, wenn es im Kontext bibliotheksgeschichtlicher, überlieferungsgeschichtlicher oder kulturgeschichtlicher Fragestellungen darum geht, heraus zu arbeiten, was Schrift an sich an historischem Aussagewert besitzt.

Bastarda
Zitiervorschlag
Julia Knödler: Schriftgeschichte, in: Mathias Kluge (Hg.), Mittelalterliche Geschichte. Eine digitale Einführung (2014). URL: https://mittelalterliche-geschichte.de/knoedler-julia-01