Archive im Mittelalter

von Mathias Kluge (Augsburg)

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Archive gibt es seit der Antike. In ihnen blieben Dokumente erhalten, denen wir große Teile unseres Wissens über die Geschichte Europas verdanken.

Alte Kanzlei der Hansestadt Lüneburg

Der Begriff „Archiv“ leitet sich vom griechischen Begriff archeion ab und bedeutet im Neuhochdeutschen „Amts-“oder „Regierungsgebäude“. Die Sumerer registrierten bereits im 3. Jahrtausend vor Christus Steuern, Abgaben oder die Menge von verteiltem Getreide. In Mari pflegte man im 2. Jahrtausend vor Christus ein Palastarchiv, aus dem sich mehrere tausend Tontafeln erhalten haben. Neben Briefen sind auf diesen Tafeln auch Urkundentexte überliefert, die verschiedene administrative Vorgänge betreffen. Im antiken Rom diente das sogenannte Tabularium zur Aufbewahrung von Bronzetafeln (tabulae) mit Gesetzestexten, Erlassen oder Verträgen. Im Frühmittelalter wurden die antiken Archvierungstechniken an Papsthöfen, Königshöfen, Bischofssitzen oder Klöstern übernommen und weitergeführt.

chartarium, chartophylacium und tabularium

In den erhaltenen Schriftdokumenten dieser Zeit werden Archive mit den Begriffen: archivumsanctuariumsacrariumscriniumarmariumtabulariumchartarium oder chartophylacium bezeichnet. Die Begriffe chartariumchartophylacium und tabularium leiten sich von den darin aufbewahrten Dokumenten ab. Von den römischen tabulae war bereits die Rede. Der Begriff charta wurde in der Antike als Bezeichnung für „Papyrus“, „Blatt“ oder „Buch“ gebraucht. Im Mittelalter nutzte man ihn dann vor allem zur Bezeichnung von Urkunden. Der Kirchenvater Hieronymus bezeichnete das päpstliche Archiv in einem Brief als chartarium ecclesiae Romanae. Im Erzbistum Ravenna hieß das Archiv cartologium, im französischen Kloster St.-Wandrille domus cartarum (Haus der Urkunden).

In den Archiven der fränkischen Könige wurden zunächst nur verhältnismäßig wenige Urkunden aufbewahrt, da der König selten Urkundenempfänger war. Großen Wert legte man aber auf die Archivierung königlicher Erlasse (Kapitularien), die im Aachener Pfalzarchiv Karls des Großen hinterlegt wurden, auch um dort eingesehen und kopiert werden zu können. Auch Verwaltungsschriftgut wurden bereits früh archiviert. Dazu gehörten etwa Urbare, die zum Nachweis von Besitzrechten an Grundherrschaften und Abgabepflichten dienten. Ein berühmtes Grundbuch, das im hochmittelalterlichen England angelegt und aufbewahrt wurde, ist das Domesday Book.

sanctuarium oder sacrarium

Diese Bezeichnungen für Archive leiten sich von den Behältnissen ab, in denen man Schriftstücke sicher aufbewahrte. Gregor von Tours berichtet, dass der Schatz des Merowingerkönigs Chilperich einen Schrein (scrinium) enthielt, in dem ein politischer Vertrag aufbewahrt wurde. Solche Schreine konnten freistehende hölzerne Schränke sein. In Klöstern wurden aber auch steinerne Wandnischen genutzt, die man mit eingelegten Brettern und abschließbaren Holztüren ausstattete. Eine konsequente Unterscheidung zwischen Bibliothek und Archiv war im Früh- und Hochmittelalter zumeist noch nicht vollzogen. Urkunden wurden vielerorts gemeinsam mit Büchern verwahrt und waren nicht immer inventarisiert. Dies änderte sich im Spätmittelalter.

Überlieferungswachstum im Spätmittelalter

Seit dem 12. Jahrhundert kam es zu einer Beschleunigung und Ausweitung des Schriftgebrauchs auf neue Lebensbereiche, an dem immer größere Teile der Gesellschaft partizipierten. Zwischen 1200 und 1250 vervierfacht sich die Zahl älterer Originalurkunden in der Datenbank des Marburger Lichtbildarchivs. In den Städten Europas wurde diese Veränderung auch durch die Emanzipation der Bürger von der Stadtherrschaft des Adels unterstützt. Die ältesten Exemplare kommunaler Buchführung im deutschen Reich nördlich der Alpen stammen aus der mittelalterlichen Großstadt Köln. Nach der Truhe, in der sie verwahrt wurden, werden sie heute als „Schreinsbücher“ bezeichnet. Die Schreinsbücher enthalten Aufzeichnungen über Besitzrechte an Immobilien, Kredite oder Schenkungen. Schon bald entstanden in neu errichteten Kanzleien der Städte Europas ganze Serien solcher „Stadtbücher“. Einen Eindruck vom exponentiellen Wachstum der städtischen Buchführung vermittelt das Forschungsprojekt ILC (Index Librorum Civitatum).

An den Höfen der Päpste in Rom und Avignon wurden im Spätmittelalter neue Gebäude für die Kanzlei errichtet. Die Kanzlei der römisch-deutschen Könige musste ihr Schriftgut auf mehreren Wagen unterbringen. Überall in Europa wurden Gewölbe und Türme errichtet, um die wachsenden Archive unterzubringen. Dass nun aber auch die Tätigkeit einzelner Bürger ganze Berge von Schriftstücken produzierte, veranschaulicht das Archiv des italienischen Kaufmanns Francesco Datini, der im 14. Jahrhundert lebte. Es wurde im 19. Jahrhundert, in Säcken verpackt, unter der Treppe seines ehemaligen Hauses aufgefunden und umfasste etwa 500 Haupt- und Geschäftsbücher, 300 Gesellschafterverträge und 140.000 Briefe. Die wachsende Vielzahl der verwahrten Schriftstücke machte neue Archivierungs- und Erschließungstechniken nötig. Urkunden wurden auf dem Rücken oder durch kleine Zettel mit Inhaltsvermerken gekennzeichnet, zu Büscheln verschnürt und in hölzernen Archivschränken untergebracht. In Nürnberg erleichterte ein siebenfarbiges Alphabet die Auffindung der Dokumente. Aus den Archivtruhen des Früh- und Hochmittelalters waren am Ende des Mittelalters übervolle Kanzleigebäude geworden.

Zitiervorschlag
Mathias Kluge: Archive im Mittelalter, in: Ders. (Hg.), Mittelalterliche Geschichte. Eine digitale Einführung (2014). URL: https://mittelalterliche-geschichte.de/kluge-mathias-01