Kulturgeschichte
von Andrew Gow (Edmonton)
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Text: Transkription von Filmaufnahmen
Wenn wir von Kulturgeschichte oder Cultural-History sprechen, müssen wir zwischen der älteren deutschsprachigen Kulturgeschichte und Cultural-History unterscheiden, die sich mit einer viel breiteren Palette von Phänomenen beschäftigt.
„Visconti-Sforza-Trionfikarten“ (um 1450)
Pierpont Morgan Library, New York
Die „alte“ Kulturgeschichte, etwa Jacob Burckhardtscher Prägung, befasste sich vornehmlich mit der Spitzenproduktion kultureller Eliten, also beispielsweise mit Kunst, Philosophie, Dichtung oder Musik. Diese Tradition dauerte bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts an (vor allem auch in der Kunstgeschichte), obgleich sie durch den Zusammenbruch der alten kulturellen Hierarchien durch die beiden Weltkriege bereits angeschlagen war. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen andere Leute aus anderen sozialen Schichten an die Universität. Diese hatten auch andere Interessen.
Das englische Wort Culture beinhaltet auch andere Dinge als das Wort Kultur. Kultur müsste man im Englischen eher als Civilization übersetzen. Als Culture wäre hingegen all das zu bezeichnen, was als Ausdruck menschlicher Grundbedürfnisse gelten kann, also nicht nur Spitzenprodukte kultureller Eliten, sondern auch alltägliche, kulturelle Erzeugnisse und Ausdrucksformen. Gemeint sind etwa Gassengesänge, Rechtshändel, Ketzergebete, Wallfahrtsorte, Raufereien in Städten, Flugblätter, Volksglauben, Laienbibeln, Viehzauber oder Blutwunder.
The New Cultural History
1989 gab die amerikanische Kulturhistorikerin Lynn Hunt den wissenschaftstheoretischen Sammelband „The New Cultural History“ heraus. Die verschiedenen Autoren schilderten den damals relativ neuen Umgang von Historikern mit kulturkritischen Ansätzen, Theoriebildungen und Prioritäten anderer Disziplinen, besonders in der englischsprachigen Welt mit den stark theoretisch geprägten Fächern Anthropologie und Literaturwissenschaft.
Vor allem Historiker, die sich nicht vornehmlich mit der Geschichte der Politik und des Rechts befassen wollten, fanden in den Werken von Clifford Geertz, Marshall Sahlins und anderen Kollegen das Werkzeug zu einer analytischen Aufarbeitung der Kultur, also eher der Culture, der mittleren und sogar der unteren Schichten. Nun wird man diesen Ansatz nicht mehr neu nennen können, doch hallen die Impulse, die in diesem Buch beschrieben werden, in der angloamerikanischen Geschichtsschreibung nach. Sie haben auch Einfluss auf die aus ausländischer Sicht doch stark traditionelle, deutsche Geschichtsschreibung ausgeübt, auch in der Mediävistik
Die nächste Generation der Culture-Historians beschäftigte sich dann auch mit den Ideen Michel Foucaults oder auch anderer Theoretiker über Macht, Wissen, Institutionen, Geschlecht, mit Gender-History, mit rhetorischer Erzählkritik, mit Diskurstheorie alla Hayden White, mit Semiotik und vornehmlich mit dem Ritual, mit dem Zeremoniellen, mit Texten und Diskurs.
Unterschiedliche Schwerpunkte
Die Prioritäten von Culture-Historians, vor allem in der außereuropäischen englischsprachigen Welt, sind andere als in Europa, wo etwa Nationalgeschichte, Verfassungs-, Rechts- und Politikgeschichte allgemein im Fokus stehen. In der außereuropäischen englischsprachigen Welt gibt es auch ganz andere Aufgabenstellungen als in Ländern wie Deutschland, wo ein besonderes Verhältnis zu sprachlich-nationaler Vergangenheit vorherrscht. Man fühlt sich hier etwa als direkter Rechts- und Kulturnachfolger der Merowinger, der Karolinger oder auch der Ottonen, der Staufer, der Bourbonen, der Tudors, der Stewards. Ebenso ist man bestrebt, das diesbezügliche, mindestens zum Teil illusorische kulturelle Erbe auszuloten und zu pflegen. Auch das elitekulturelle Gepräge des mitteleuropäischen Bildungsbürgertums lenkt die Aufmerksamkeit historisch Interessierter auf die kulturelle Spitzenproduktion verschiedener Eliten, ob eben in Gemälden, Bauten, Schriftgut oder sonstigen kulturellen Errungenschaften. So bleibt der gesamte Ansatz in Europa voraussichtlich eine ziemlich stark von der bildungsbürgerlichen Kulturgeschichte geprägte Disziplin, wohingegen sich die englischsprachige Cultural-History zunehmend mit der Geschichte der Kultur der mittleren und auch der unteren Schichten und Gruppen und zwar vornehmlich im Alltag befasst.
Quellen und Methoden der Cultural-History
Während die ältere Kulturgeschichte ihre Erkenntnisse eher aus Texten der Theologie, der Philosophie, des Rechts, der Medizin und aus offiziellen Urkunden gewann, arbeiteten Culture-Historians eher mit Briefen, Frömmigkeitsliteratur, Gerichtsakten, kleineren Urkunden (z. B. Testamente), Devotionalien, volkssprachlichem Schriftgut oder sogar mit archäologischen Funden. Zum Beispiel hat Caroline Walker Bynum, die schon auf dem Gebiet der Cultural-Historie durch Werke zur Weiblichkeit und Religion, etwa „Jesus as Mother“, und Fragen zur kulturellen Bedeutung des Essens, siehe „Holy Feast and Holy Fast“, bekannt ist, einen Band zu spätmittelalterlichen Blutwundern veröffentlicht, in dem anthropologische und literaturtheoretische Ansätze Zugang zu einem spannenden Quellenkorpus ermöglichen. Ohne diesen methodischen Zugang hätte sie in ihren Büchern wohl nur Unzusammenhängendes über etwas exotische Phänomene berichten können. Aber gerade durch ihre präzise aufgebauten, theoretisch anspruchsvollen und hoch differenzierten Fragestellungen über die soziale Bedeutung und die Rolle kultureller Phänomene, entgeht sie dieser Gefahr.
Zwei Versionen des Mittelalters
Mit dieser Aufsplitterung der Historiker in solche, die sich Einblicke in die Geschichte der Institutionen und solche, die sich Einblick in die Kultur erhoffen, entstehen parallel zueinander zwei Mittelalterversionen universitärer Machart. Zwar gibt es eine Schnittmenge von Cultural-Historians, die sich eher für die Kultur des Bürgertums, des Klerus und der Literatenschichten interessieren, welche sie mit den theoretischen Mitteln der Cultural-History aufschlüsseln wollen. Doch bleibt diese Schnittmenge aus eher „elitärer“ Kulturgeschichte und theoriezugewandter Cultural-History die Ausnahme, hier wie dort. Abgesehen davon entwickelt sich nun die Cultural-History des Mittelalters, die etwa durch Gabrielle Spiegel, David Nirenberg, Caroline Walker Bynum oder auch Kathleen Biddick vertreten wird, ziemlich rasch von der herkömmlichen Praxis der verfassungs- und rechtsgeschichtlich fokussierten mittelalterlichen Geschichtsschreibung weg. Die Tendenz zur Zersplitterung wächst unter Historikern, trotz aller Bestrebungen und Bemühungen um die viel gepriesene, doch in der Tat nur schwer realisierbare Interdisziplinarität. Beide Schienen können voneinander lernen und sollten sich unbedingt noch besser verstehen.